Zwischen Paternalismus und Partizipation
epd-Dokumentation zu Sinti und Roma in kirchlicher Sozialarbeit
Sozialarbeit ist ein bedeutendes Handlungsfeld, in dem Sinti und Roma, Sinti*zze und Rom*nja mit kirchlichen Institutionen als Bündnispartnern im Kampf gegen Ausgrenzung und für gleichberechtigte Teilhabe in Berührung kommen. Sie ist aber auch ein Brennpunkt, in dem sie Verfolgung, Diskriminierung und Paternalismus ausgesetzt waren und bis in die Gegenwart sind. Unter dem Titel „Zwischen Paternalismus und Partizipation“ widmete sich deshalb die Jahrestagung 2023 des Netzwerks Sinti Roma Kirchen der Geschichte und Gegenwart kirchlicher Sozialarbeit. Die Beiträge dieser Fachtagung sind jetzt in einer epd-Dokumentation nachzulesen.
Für das Thema gibt es zahlreiche Anknüpfungspunkte, darunter die Initiierung neuer »Stolpersteine« zum Gedenken an Minderheitenangehörige, die von der kirchlichen Wohlfahrt ausgeliefert und vom NS-Regime ermordet wurden. Von der Mehrheitsgesellschaft oft übersehen, gab es in den 1970er und frühen 1980er Jahren vehementen Widerstand der Bürgerrechtsbewegung von Sinti und Roma. Von der Relevanz des Themas zeugen aktuell auch viele Anfragen an Selbstorganisationen, in denen Wohlfahrtseinrichtungen um Unterstützung für den Umgang mit aus der Ukraine geflüchteten Roma bitten.
Kontinuitäten von der NS-Zeit bis heute
Ziel der Fachtagung war es, Entwicklungen der kirchlichen Haltung gegenüber Sinti und Roma im Wandel der Zeit, vor allem aber auch Kontinuitäten von der NS-Zeit bis heute aufzuzeigen. Vor diesem Hintergrund wollten wir den Blick in die Gegenwart richten: Wie können wir Antiziganismus und Paternalismus in der Sozialen Arbeit jetzt und zukünftig entgegentreten? Wo sind Ansätze echter Partizipation zu finden, die als Handlungsempfehlungen dienen können?
Die vorhandenen Veröffentlichungen zum Thema decken nur den Bruchteil eines Feldes ab, das es im Grunde noch zu bearbeiten gilt. Auf diesen Arbeiten aufbauend hoffen wir, mit den Beiträgen der Fachtagung einen Teil zur Sondierung des Feldes beizutragen. Neben wissenschaftlichen Erörterungen gehören dazu Erfahrungen und Berichte aus der Praxis.
Die Stimmen Betroffener gehören ins Zentrum der Aufarbeitung
Doch wie können die antiziganistischen Kontinuitätslinien in der Sozialen Arbeit durchbrochen werden? Ein Schlüssel dafür kann die kritische Auseinandersetzung der kirchlichen Institutionen mit dem eigenen Handeln, die Anerkennung des Unrechts sein. Voraussetzung dafür ist ein Wechsel der Perspektive, denn die Stimmen der Betroffenen müssen im Zentrum der Aufarbeitung stehen. Das Geschehene sollte aus ihrem Blickwinkel betrachtet werden. Das Konzept und die Kriterien dieser Auseinandersetzung können sich nur an den Bedürfnissen der Community orientieren.
Dennoch kann der Impuls und die Verantwortung zur Aufarbeitung nicht den Selbstorganisationen übertragen werden. Dieser Ball liegt im Feld der mehrheitsgesellschaftlich dominierten Institutionen: Sie müssen bereit sein, sich dem eigenen antiziganistischen Handeln in Vergangenheit und Gegenwart zu stellen und unter Einbeziehung der Minderheitenangehörigen zu überwinden.
Die kirchlichen Akteur*innen müssen sich das Vertrauen der Community dafür erarbeiten, nicht unter einem vorschnell erwünschten Vorzeichen der Versöhnung, nicht zum Selbstzweck, sondern um eine Umkehr anzustoßen. Das muss im Miteinander und auf Augenhöhe geschehen, wie es im Netzwerk Sinti Roma Kirchen Praxis ist und von der EKD in ihrer Solidaritätserklärung mit der Minderheit im Januar 2023 als Ziel verankert wurde.
Der Text ist eine gekürzte und leicht angepasste Fassung des Vorworts der epd-Dokumentation Nr. 4-5/2024, „Zwischen Paternalismus und Partizipation“. Einen Sonderdruck der Dokumentation können Sie kostenlos bei uns bestellen; bei Sammelbestellungen freuen wir uns über eine Spende. Die aktuelle und weitere epd-Dokumentationen erhalten Sie außerdem kostenpflichtig direkt beim Evangelischen Pressedienst (epd).
Erschienen am 24.01.2024
Aktualisiert am 01.03.2024