Kirchliche (Mild-)Tätigkeit als Herrschaftsform
Dokumentation zum Umgang mit Sinti und Roma nach 1945
Kirchliche Sozialarbeit im Blick auf Sinti* und Roma* stand im Mittelpunkt der Jahrestagung des Netzwerks Sinti Roma Kirchen im September 2024. Das bereits im Jahr zuvor diskutierte Thema wurde dabei zugespitzt auf die Frage, welche Rolle kirchliche (Mild-)Tätigkeit als Herrschaftsform gegen Sinti und Roma nach dem Zweiten Weltkrieg spielte. Die Beiträge der Jahrestagung 2024 sind jetzt in der epd-Dokumentation Nr.3/25 nachzulesen.
Erneut stand das Spannungsfeld zwischen Paternalismus und Partizipation im Mittelpunkt der Jahrestagung. Die Argumentation von Natalie Reinhardt, dass über die Soziale Arbeit Sinti* und Roma* als ‚Andere‘ konstruiert werden (hilfsbedürftig, ungebildet, unmündig, etc.), um in der Abgrenzung davon die bürgerliche Norm des autonomen, gebildeten und mündigen Subjekts zu konstruieren, trifft dabei nicht nur auf eine lange Geschichte zu, sondern auch auf eine verletzende Gegenwart.
Dass für ein tieferes Verständnis über die Funktionsweisen antiziganistischer Strukturen der Blick bis in die Anfänge des Protestantismus lohnt, beweist Dr. Karl-Heinz Fix in seinem „Überblick mit kritischen Bemerkungen zum bisherigen Umgang mit den Quellen“. Basierend auf der Feststellung einer sehr dünnen Quellenlage mahnt er an, nicht vorschnell zu Schlüssen über die Evangelische Kirche in ihrer Gesamtheit zu kommen. Der deutsche Protestantismus ist durch eine föderale Struktur geprägt, den es im Detail zu untersuchen gilt. An mehr als 2.000 untersuchten Kirchenordnungen zeigt Fix, dass man davon sprechen kann, dass das Verhältnis von Kirche und Sinti* und Roma* hauptsächlich ein Nicht-Verhältnis ist. An weiteren Beispielen, etwa Spätschriften von Luther, evangelischen Sittengeschichten oder theologischen Lexika, ließe sich dieses Nicht-Verhältnis derart betrachten, dass lediglich das Zigeuner-Konstrukt als Abgrenzungsvehikel fungiert. Es taucht in einem Reigen von Devianzen (also als Abweichung von „der Norm“) auf, je nach Bedarfen der jeweiligen Epoche gemeinsam mit der Nennung unter anderem von Juden, Katholiken oder Schaustellern.
Verena Meier von der Forschungsstelle Antiziganismus der Universität Heidelberg kann in ihren Analysen zu den Entwicklungen über „das Verhältnis der Evangelischen Kirche zu Sinti und Roma nach 1945” gut daran anknüpfen. In den 1940er und 50er Jahren waren es noch einzelne Akteure, deren Einsatz für Sinti* und Roma* mit dem Engagement für Juden und Jüdinnen einherging. Bei diesen zeigt sich - bei durchaus glaubhaften guten Absichten - ein antiziganistischer Paternalismus. Zeichen der Bemühungen auf evangelischer Seite ist das Bestreben der Koordination der Arbeit mit Sinti und Roma ab den 70er Jahren. Diese Entwicklungen laufen parallel zur Formierung der “Katholischen Zigeuner- und Nomadenseelsorge” ab 1965. In den 70ern und 80ern werden ansatzweise Minderheitsangehörige in die Gestaltung der kirchlichen Arbeit einbezogen.
Dr. Harald Jenner ergänzt mit seinen Überlegungen zu „möglichen historischen Quellen zum Antiziganismus in diakonischen Einrichtungen”. Mit Blick auf die Entwicklung diakonischer Einrichtungen wird klar, warum eine Aufarbeitung vor enormen Herausforderungen steht. Zum einen ist da das zahlenmäßige Verhältnis von Minderheit und Gesamtgesellschaft (das sich durch den NS-Völkermord nach 1945 dramatisch darstellte), sowie der vermutete geringe Anteil von evangelischen Sinti* und/oder Roma*. Zum anderen entwickelten sich diakonische Einrichtungen im Laufe des 19. Jahrhunderts oft aus Individualinitiativen. Dies geschah in der Logik kolonialistischer Denkmuster – gerade bzgl. der “letzten Wilden Europas” bzw. “primitiver Zigeuner”. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kam es zu Vereinigungsprozessen diakonischer Werke, die Erschließung der Archive gestaltet sich entsprechend herausfordernd. Erste Ansatzpunkte, etwa für Kinderheime, Fürsorgeeinrichtungen oder Einrichtungen für Menschen mit Behinderung, zeigt Jenner in seinem Beitrag auf.
Mit diesen Beiträgen ist eine Grundlage für weitere Schritte einer Aufarbeitung der “zweiten Verfolgung” von Sinti und Roma in kirchlichen Kontexten nach 1945 geschaffen. Nun gilt es, mit den Akteuren aus dem Netzwerk Sinti Roma Kirchen konkrete Fälle zu erarbeiten. Dafür sehen wir gute Grundvoraussetzungen im Netzwerk: kirchliche Akteure, denen die Übernahme von Verantwortung und eine selbstkritische Aufarbeitung von Innen große Anliegen sind, und Vertreter*innen von Selbstorganisationen, die die Betroffenenperspektive einbringen. Mit Blick auf die zwiespältige Geschichte ist aber klar, dass zunächst Vertrauen aufgebaut werden muss.
Wie wichtig die Aufarbeitung gesamtgesellschaftlich ist, geht auch aus dem Bericht der Unabhängigen Kommission Antiziganismus hervor. Sie fordert eine zweite Kommission zu diesem Thema. Bemühungen der Bundesregierung unter Federführung des Antiziganismusbeauftragten, das von staatlichen Stellen begangene Unrecht aufzuarbeiten, wollen wir mit der Bearbeitung kirchlicher Praxis in der Sozialen Arbeit erweitern. Dies ist aufgrund der Zusammenarbeit staatlicher und kirchlicher Akteure besonders wichtig.
Ebenso wie auf der letztjährigen Netzwerktagung war es uns ein Anliegen, gegenwärtige Herausforderungen in den Blick zu nehmen. Selbstverständnis des Netzwerks ist es dabei, den Austausch auf Augenhöhe zu pflegen. Dass diese Augenhöhe komplexer und vielschichtiger gedacht werden muss als zwischen Minderheit auf der einen, und Mehrheitsgesellschaft auf der anderen Seite, zeigen die Beiträge von Community-Mitgliedern, die selbst in der Sozialen Arbeit oder in Behörden tätig sind.
Ein Baustein für systematische Strukturveränderungen ist die Melde- und Informationsstelle Antiziganismus Schleswig-Holstein (MIA SH). Rolf Schlotter, Marvin Hanisch und Christian Schamong zeigen, wie sie sich mit „Daten für Gerechtigkeit“ im Kampf gegen Antiziganismus einsetzen. Die 2024 gegründete Regionalmeldestelle, die in Kooperation vom Landesverband Deutscher Sinti und Roma und der Türkischen Gemeinde Schleswig-Holstein betrieben wird, baut ein Netzwerk auf, um als Anlaufstelle für Meldungen antiziganistischer Vorfälle das immense Dunkelfeld aufzuhellen. Da viele dieser Fälle nicht in der Kriminalstatistik erscheinen, ist es das Ziel, mit belastbaren Daten die Grundlagen zu schaffen, um den Handlungsbedarf auch quantitativ zu untermauern. MIA SH setzt sich gleichzeitig mit Bildungsarbeit für ein Umdenken in kommunalen und staatlichen Institutionen ein.
In ihrem Beitrag „Professionelle Perspektiven aus der Community für Soziale Arbeit im Kontext Antiziganismus, heute und morgen“ richtet Talina Connolly von ihrer Gegenwartsanalyse aus den Blick in die Zukunft. Es wird klar, wie komplex sich Antiziganismus in der Praxis der Sozialen Arbeit darstellt: Antiziganistische Diskriminierung wird nicht nur von Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft (re-)produziert, und Interventionen dagegen sollten nicht nur von Betroffenen eingebracht werden. Gerade wo persönliche Betroffenheit ein Intervenieren schwer macht, braucht es eine solidarische Praxis. Die Bereitschaft, immer wieder zu scheitern, bei gleichzeitigem Bestreben, die Ideale der Sozialen Arbeit festzuhalten, kann ein Lösungsansatz sein, antiziganistische Teufelskreise zu durchbrechen.
Der Text ist eine gekürzte und leicht angepasste Fassung des Vorworts der epd-Dokumentation Nr. 3/2025, „Zwischen Paternalismus und Partizipation. Kirchliche Mildtätigkeit als Herrschaftsform nach 1945?“. Die epd-Dokumentation Nr. 3 und weitere epd-Dokumentationen zu ausgewählten Veranstaltungen der Akademie können Sie in gedruckter Form beim Evangelischen Pressedienst (epd) bestellen.
Erschienen am 24.01.2025
Aktualisiert am 31.01.2025