Freya von Moltke in memoriam. Das bessere Leben
Gedenkgottesdienst für Freya von Moltke am 23. März 2010
Freya von Moltke im Dezember 2009
„Wie gut, dass Kreisau heute polnisch ist. Das nimmt es heraus aus einer möglichen deutschen Enge und macht es von vornherein zu einem europäischen Ort.”
Diesen fulminanten Satz sagte Freya von Moltke ganz am Anfang der neunziger Jahre,
als erste konzeptionelle Überlegungen für die künftig stattfindenden internationalen Jugendbegegnungen im Neuen Kreisau angestellt wurden. Jemand hat ihn spontan notiert, doch niemand erinnert den konkreten Anlass. Vielleicht hatten gerade wieder einmal die Deutschen im Stiftungsrat das große Wort geschwungen und die Polen fühlten sich in die Defensive gedrängt, vielleicht hatte jemand die Sorge geäußert, das mit dem Idealismus einer internationalen Bürgerinitiative begonnene Projekt könnte von irgendwelchen partikularen politischen Interessen instrumentalisiert oder vereinnahmt werden und seinen pluralen Charakter verlieren. Immer dann, wenn sich Kleingeistigkeit einschlich, wenn Ausgrenzungsversuche oder Machtspiele gestartet wurden, die die demokratische Offenheit des Neuen Kreisau für sehr verschiedene geistige Strömungen hätten beschädigen können, immer dann konnte man mit einem klärenden, die Wogen glättenden Wort Freya von Moltkes rechnen. Wenn sich Debatten am toten Punkt festliefen, entfernte sie auf elegante, nie verletzende Art Bretter vor den Köpfen, weitete die Vorstellungskraft und lenkte die Gedanken auf einen größeren Horizont. Dem Gewicht ihrer Lebenserfahrung, ihrer Ausstrahlung und Überzeugungskraft konnte sich niemand entziehen.
Dabei hat sie, die letzte deutsche Kreisauer Gutsherrin und nunmehr Ehrenvorsitzende des Rates der Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung, in Krzyzowa nie „regiert” oder eine herausgehobene Rolle für sich beansprucht, vielmehr mit großer Gelassenheit und Geduld die Dinge sich entwickeln lassen. Bis 1989 ahnte kaum jemand, dass sie mit sanfter und doch zäher Beharrlichkeit auf den Tag hinarbeitete, an dem das schlesische Kreisau wachgeküsst werden würde. Als er im November 1989 gekommen schien – Helmut Kohl hatte sie eingeladen, mit ihm zur Versöhnungsmesse mit Tadeusz Mazowiecki nach Kreisau zu reisen –, lehnte sie ab. Freya von Moltke wollte jeden Anschein vermeiden, als handele es sich möglicherweise doch um einen Versuch gutsherrlicher Rückkehr. Sie wartete auf die Einladung aus Polen, die sie wenig später erhielt.
Seither kam sie fast jedes Jahr aus dem amerikanischen Vermont, bis ins hohe Alter von weit über neunzig Jahren. Sie begleitete den inneren und äußeren Aufbau der Stiftung, nahm an Tagungen und Seminaren teil und vermittelte den jungen Menschen aus vielen Ländern Europas, dass die Moltkes zusammen mit ihren Freunden im Widerstand nicht nur einer risikoreichen, nervenaufreibenden und rastlosen Existenz unterworfen waren, sondern auch das bessere Leben hatten – ein Paradoxon, das viele Jugendliche zunächst verblüfft haben mag. War denn nicht Helmuth James von Moltke, für Freya der nächste und liebste Mensch, der Vater ihrer beiden kleinen Kinder, zusammen mit einigen seiner Freunde in der Blüte seiner Jahre Opfer eines Justizmordes am Galgen in Plötzensee geworden? Es war aber kein Paradoxon für Freya, denn an dieser Überzeugung hat sie all die Jahrzehnte danach unerschütterlich festgehalten, daraus hat sie die Kraft bezogen, mit ihrer Trauer fertig zu werden. Sie hat keine Sekunde gezweifelt, dass es richtig war, nicht einfach zuzusehen, wenn von Staats wegen Gottesrecht und Menschenrecht systematisch geschändet werden – auch wenn sie zwischendurch hin und wieder den Kopf in den Sand steckte, wie sie selbst eingestand, weil es unerträglich war, „sich vorzustellen, was vor sich ging”. Und sie hat diese existentielle Erfahrung in eine allgemeine Erkenntnis gefasst. Sechzig Jahre nach dem 20. Juli sagte sie: „Jede Form und jeder Akt des Widerstands gegen den Nationalsozialismus hat sich gelohnt. Nichts davon war vergeblich. Jede Handlung gegen das schreiende Unrecht der nationalsozialistischen Diktatur hat Bedeutung. Es hat sich gelohnt, weil der deutsche Widerstand die europäische Menschlichkeit in Deutschland lebendig gehalten hat.”
Auf diese Weise hat Freya von Moltke in der ganz auf die Zukunft ausgerichteten Vorstellungswelt junger Menschen einen Platz geschaffen für das Denken und Handeln der Menschen im Widerstand – nicht nur der Kreisauer. Es war wunderbar zu erleben, wie schnell sie bei Begegnungen mit Angehörigen der demokratischen Opposition Polens eine gemeinsame Sprache fand – mit Jacek Kuron, Bronislaw Geremek, Wladyslaw Bartoszewski. Sie hat damit unprätentiös darauf hingewiesen, dass junge Menschen auch heute in ihrem Leben mit Bewährungsproben rechnen müssen, in denen eine Herausforderung auf sie zukommt, die sie nicht im voraus kalkulieren oder mit einer Versicherungspolice abdecken können – Entscheidungssituationen und Lebenslagen, in denen letztlich das bessere Leben auf des Messers Schneide steht. Freya von Moltke hat ihnen geholfen, die Frage nach der eigenen Verantwortlichkeit für die Verhältnisse, in denen sie leben wollen, ganz dicht an sich heranzulassen. Sie war in ihrer Person die Klammer zwischen dem Alten und dem Neuen Kreisau und wird das auch über ihren Tod hinaus bleiben.
In Kreisau verbrachte sie die prägenden Jahre ihres Lebens. Das erste Mal kam die 1911 in einer Kölner Bürgerfamilie geborene Freya Deichmann 1930 auf den schlesischen Gutshof der Moltkes, auf Besuch zu Helmuth James, den sie ein Jahr zuvor in Grundlsee im Salzkammergut bei einer Art Sommerakademie kennengelernt hatte. Ein Jahr später heirateten die beiden. 1935 wurde sie an der Berliner Friedrich-Wilhelm-Universität (heute Humboldt-Universität) zum Dr. jur. promoviert. Diese glücklichen Jahre des gemeinsamen Studierens und Arbeitens, pendelnd zwischen Berlin und Kreisau, unterbrochen durch eine Reise nach Südafrika zu den Großeltern von Helmuth James, waren zugleich eine Zeit des Ringens um eine verantwortliche Haltung gegenüber der nationalsozialistischen Diktatur.
1940 hatte Helmuth James von Moltke sein strategisches Konzept voll entwickelt. Er versammelte eine Gruppe von Nazi-Gegnern, um für ein demokratisches Deutschland nach der Diktatur zu planen und damit die politischen Voraussetzungen für einen militärischen Umsturz zu schaffen. Freya wurde seine erste Beraterin: „Helmuth gab etwas auf mein Urteil über Menschen. Es war ja eine Vertrauensfrage erster Ordnung. So fragte er mich eines Tages, ob nicht Konrad Adenauer, den ich als Oberbürgermeister von Köln durch seine freundschaftliche Beziehung zu meiner Mutter näher erlebt hatte, geeignet sei, in dieser Gruppe mitzuarbeiten. Wie jung wir waren, beweist meine Antwort, er sei dafür schon zu alt!” 1942 und 1943 war sie die fürsorgliche und umsichtige Gastgeberin der drei größeren Besprechungen im Kreisauer Berghaus, bei denen die Grundsatztexte redigiert wurden. Freya von Moltke hat sie auf dem Dachboden des Schlosses versteckt und mitnehmen können, als im Oktober 1945 englische Freunde einen Jeep nach Berlin organisiert hatten, damit sie mit ihren beiden Söhnen nicht in das Chaos der Flüchtlingstrecks geraten musste. Zusammen mit den rund 600 Briefen von Helmuth James, die sie in den Bienenstöcken aufbewahrte, ist dieser Textcorpus bis heute die wichtigste Grundlage für die Geschichtsschreibung über den Kreisauer Kreis.
Die Verhaftung ihres Mannes im Januar 1944 wandelte sich bald nach dem 20. Juli in eine lebensbedrohliche Lage. Die Gestapo hatte auch den Kreisauer Arbeitszusammenhang entdeckt, und Moltke wurde aus seiner „privilegierten” Zelle im Gefängnistrakt des Konzentrationslagers Ravensbrück in das Strafgefängnis Berlin-Tegel verlegt. Dort war der befreundete Harald Poelchau Gefängnispfarrer, und so blieb auch in dieser Zeit der Briefkontakt erhalten: „Fast vier Monate lang konnten wir uns bis zu Helmuths Tod täglich schreiben.”
In dieser nach menschlichem Ermessen schier unendlich langen Zeit des Abschieds wurde der damals 33-jährigen Frau ihre künftige Lebensaufgabe bewusst. Sie musste öffentlich Zeugnis geben von dem, was notgedrungen im Verborgenen getan worden war. In dieser Rolle war sie unvertretbar. Die berühmten Letzten Briefe editierte sie – auftragsgemäß – schon kurz nach dem Krieg. Unter dem Titel „Für und wider. Entscheidungen in Deutschland 1918-1945“ gab sie zusammen mit Annedore Leber eine illustrierte Darstellung des deutschen Widerstands heraus. Gemeinsam mit den Freunden Michael Balfour und Julian Frisby verfasste sie eine erste Moltke-Biografie, die 1972 zunächst auf englisch herauskam. Und die „Briefe an Freya”, erschienen 1988, sind ebenso wie die Dokumente eine unverzichtbare Quelle für jeden Historiker, der über den Kreisauer Kreis publiziert.
Auf diesem Wege hat Freya von Moltke lange vor 1989 erste Brücken nach Polen gebaut und auch persönliche Beziehungen geknüpft. Zumindest in Fachkreisen war bekannt, dass das in der kommunistischen Zeit verfallene Staatsgut mit einer Geschichte verbunden ist, die der Erinnerung wert ist. Es ist schwer vorstellbar, dass ohne dieses Wissen der historische Augenblick des Jahres 1989 hätte genutzt werden können, in Kreisau einen zunächst aus der Euphorie des politischen Wandels geborenen Versuch zu unternehmen, diesen heute polnischen Ort des deutschen Widerstands für die Gestaltung der Zukunft Europas zu retten.
Freya von Moltke starb nach kurzer Krankheit am 1. Januar 2010 im Alter von 98 Jahren in ihrem Haus in Vermont (USA). Das Neue Kreisau war für sie eine Herzenssache, die Genugtuung nach einem langen Leben und die Gewissheit, das Richtige getan zu haben. Für alle, die um sie trauern, ist dies ein Trost – sie hatte eben wirklich das bessere Leben.
Ludwig Mehlhorn
Am 23. März fanden in der Französischen Friedrichstadtkirche ein Gedenkgottesdienst und eine Gedenkfeier für Freya von Moltke statt. Die Predigt hielt Pfarrer Fritz Delp aus Worms. Die Grußworte sprachen u.a. Helmuth Caspar von Moltke und Dr. Marek Prawda, Botschafter der Republik Polen.
Predigt von Fritz Delp (PDF-Dokument, 45.9 KB)
Grußwort von Helmuth Caspar von Moltke (PDF-Dokument, 73.5 KB)
Grußwort des Botschafters (PDF-Dokument, 91.5 KB)
Bundespräsident Horst Köhler begrüßt den polnischen
Botschafter Marek Prawda und Gattin
Erschienen am 11.02.2014
Aktualisiert am 28.03.2014