„Staat sollte fördern, aber nicht inhaltlich eingreifen“
Perspektiven von Freiwilligendiensten
EKD-Ratsvorsitzender diskutierte am 01. Dezember 2010 über Perspektiven von Freiwilligendiensten
Nach Ansicht des Vorsitzenden des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Präses Nikolaus Schneider, ist es Aufgabe des Staates, die vorhandenen Strukturen von Freiwilligendiensten zu fördern. Dabei müsse der Staat Rahmenbedingungen zu setzen, nicht aber inhaltlich in die Arbeit der Freiwilligendienste eingreifen, betonte Schneider bei der Tagung „Freiwilligendienste in Europa“. Wie staatliches Handeln im Blick auf Freiwilligendienste in Deutschland gestaltet sein sollte, haben die Tagungsteilnehmer in acht Grundsätzen formuliert.
Er warne davor, den Freiwilligendienst unter dem Aspekt der Nützlichkeit zu bewerten, sagte der Ratsvorsitzende im Rahmen der Podiumsdiskussion über Perspektiven von Freiwilligendiensten in Europa in der Französischen Friedrichstadtkirche. Vielmehr sei ein solcher Dienst ein Instrument zur Entwicklung und Bildung der Persönlichkeit. Ein funktionierendes Gemeinwesen sei auf Menschen angewiesen, die bereit seien, Verantwortung zu übernehmen. Die Überzeugungen dafür würden aus einem „Werteboden“ gezogen – ein solcher könne durch den freiwilligen Dienst gerade im kirchlichen Bereich entstehen.
Als Instrument der Zivilgesellschaft sei der Freiwilligendienst in vielfacher Trägerschaft gut aufgestellt; die Evangelische Kirche begrüße diese Pluralität als Stärke der Gesellschaft ausdrücklich, unterstrich der Präses. „Die vorhandenen freiwilligen sozialen und ökologischen Dienste sowie die freiwilligen Friedensdienste müssen in ihrer Vielfalt und Eigenart erhalten bleiben und nach Möglichkeit gestärkt werden“, sagte Schneider mit Blick auf die derzeitige Entstehung eines Bundesfreiwilligendienstes in Deutschland.
Das Prinzip der Subsidiarität als wesentliche gesellschaftliche Errungenschaft sei vor dem Hintergrund der totalitären Herrschaft der Nationalsozialisten in der Nachkriegszeit kaum erklärungsbedürftig gewesen, so der Präses weiter. Inzwischen nehme er in dieser Hinsicht einen Transformationsprozess wahr. „Jüngeren Menschen müssen wir das Prinzip der Subsidiarität häufig erklären; auch im politischen Bereich herrscht bisweilen die Ansicht: Wer zahlt, bestimmt!“ Zivilgesellschaftliche Gruppen dürften aber keinesfalls zum verlängerten Arm staatlicher Interessen werden. Schneider warnte: „Wir müssen aufpassen, dass sich Gesellschaft und Staat nicht in die falsche Richtung bewegen.“
Wie staatliches Handeln im Blick auf Freiwilligendienste in Deutschland aussehen sollte, wurde im Rahmen der Tagung in acht Grundsätzen formuliert. Die erste grundsätzliche Forderung an den Staat: die Förderung der weltanschaulichen Pluralität; die Neutralität des Staates in dieser Hinsicht sei als Basis für eine Gesellschaft nicht ausreichend. Darum muss er weltanschauliche Pluralität wollen und sogar fördern. Zum Zweiten habe der Staat eine Gemeinwohlverantwortung, der er alleine nicht gerecht werden könne. Aus diesem Grund müsse er „ein offener partizipatorischer Staat sein“. Tragende Prinzipien seien dabei Subsidiarität und Solidarität.
Aus diesem Grund sei, so die dritte These, der Dialog mit der Zivilgesellschaft auch im Bereich der Freiwilligendienste essentiell. Dieser beruhe – in Deutschland deutlicher als in anderen europäischen Ländern - auf dem Vertrauen, dass die Freiwilligendienste einen unverzichtbaren Beitrag zur Gemeinwohlverantwortung leisten. Gleichwohl solle staatliches Handeln auch Kriterien zur Qualität dieser Verantwortungsübernahme sichern.
Die Sicherung dieser Qualität und die Gewährleistung, dass die gewünschten Ergebnisse beim Freiwilligendienst auch erzielt werden, solle viertens durch Anreize für und Verantwortungsübergabe an die jeweiligen Träger geleistet werden - und nicht durch „paternalistische“ Steuerung „von oben“. Dies beziehe sich auch auf inhaltliche Ziele der Arbeit (wie etwa die Zielgruppenerweiterung), bei denen gemeinsame Interessen von Staat und Zivilgesellschaft vorhanden seien.
Ein weiterer Grundsatz: Freiwilligendienst sei eine zentrale und nachhaltige Bildungs- und Lebenserfahrung, die Selbstreflexion und Persönlichkeitsbildung fördere. Er diene einer beruflichen Qualifizierung vor allem im Sinne einer Aneignung von „softskills“. Damit werde er zu einem Instrument, mit dem spezifische gesellschaftliche Problemlagen „beantwortet“ werden könnten. Freiwillige Dienste bedeuteten somit „eine Mischung aus gesellschaftlicher Orientierung, persönlichem Eigensinn und sinnvollem Eigennutz“. Die Veränderung von gesellschaftlichen Verhältnissen werde in der Vielfalt von Trägern am besten erfasst und bearbeitet.
Daraus ergibt sich als sechster Grundsatz die Forderung an den Staat, diese Pluralität zu unterstützen, und die Träger nicht gegeneinander auszuspielen. Dies bedeute siebtens für die zivilgesellschaftlichen Träger, dass sie vorhandene Interessengegensätze offen thematisieren und konstruktiv bearbeiten, sowie konfliktfähig einen offenen Dialog praktizieren sollten.
In der abschließenden These gehen die Teilnehmer der Tagung davon aus, dass christlicher Freiwilligendienst ein Dienstverständnis voraussetze, das in einer spezifischen Weise Freiheit und Verbindlichkeit verbindet. Der Sinnbezug als notwendige Ergänzung der Tätigkeit sei konstitutiv. Dabei sei darauf zu achten, dass nicht nur Dienst-Tätigkeiten, sondern auch Feier und Muße in den Blick genommen würden. Der christlich geprägte Freiwilligendienst nimmt in besonderer Weise die existentiellen Grunderfahrungen des Lebens, wie Tod, Leid, Schmerz, Schuld auf und bringt sie mit der Überzeugung vom Wert des Lebens als einem Geschenk zusammen.
Die Tagung „Freiwilligendienste in Europa“ wurde von der Evangelischen Akademie zu Berlin gemeinsam mit Aktion Sühnezeichen Friedensdienste, mit den Evangelischen Freiwilligendiensten für junge Menschen, der Servicestelle für internationale Freiwilligendienste, der Konferenz evangelischer Freiwilligendienste, der Evangelischen Trägergruppe für gesellschaftspolitische Jugendbildung und der Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden durchgeführt.
Stellungnahme des EKD-Ratsvorsitzenden Präses Nikolaus Schneider (PDF-Dokument, 26.8 KB)
Erschienen am 11.02.2014
Aktualisiert am 28.03.2014