Aufbruch in der arabischen Welt – und Europa?
Friedensgutachten 2011
Rückblick auf die Veranstaltung zum Friedensgutachten am 24. Mai 2011
Europa wird zur Rechenschaft gezogen werden. Die gesellschaftlichen Akteure des Westens werden sich verantworten müssen für Haltung und Handeln den arabischen Gesellschaften gegenüber; davon ist Rüdiger Sachau, Direktor der Evangelischen Akademie zu Berlin, überzeugt. „Die arabischen Völker werden nicht nur die Herrscher der jeweils eigenen Länder zur Rechenschaft ziehen sondern auch uns fragen, was wir in den vergangenen Jahrzehnten getan und unterlassen haben“, sagt Sachau, Argumente des deutsch-ägyptischen Journalisten Karim El-Gawhary aufnehmend nach der Veranstaltung „Aufbruch in der arabischen Welt – und Europa?“ die am 24. Mai in der Französischen Friedrichstadtkirche stattfand.
Ausgangspunkt des Abends war das Friedensgutachten 2011. Auch Dr. Margret Johannsen vom Deutschen Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg, eine der Mitautorinnen des Gutachtens, hatte in ihrer Einführung betont, dass Europa „mitschuldig“ sei „an der langen Stagnation in der arabischen Welt“. Die Europäische Union mit ihrer Agrar- und Fischereipolitik, sowie die Export- und Investitionspraxis europäischer Unternehmen hätten dazu beigetragen. Die EU habe eine kleine Wirtschaftselite gestützt, die sich nicht um die Armut der Bevölkerung kümmerte. Darüber hinaus sei auch die ausgrenzende Migrationspolitik des Westens zu kritisieren. „Die EU-Staaten haben sich mit politischen Tauschgeschäften zu Komplizen repressiver Regime gemacht. Autokraten lieferten Erdöl und Erdgas, fingen Flüchtlinge ab und erhielten dafür günstige Kredite sowie Waffen“, so die Anklage Johannsens.
„Dass der Westen die Demokratiesierungsinteressen, die er hätte wahrnehmen müssen, vernachlässigt hat, war Konsens bei allen Beteiligten“, berichtet Akademiedirektor Rüdiger Sachau. Aus europäischer Sicht seien die hoffnungsvollen Aufbruchsbewegungen, die Pluralisierung der arabischen Welt sehr überraschend gekommen. Die Wahrnehmung in den betroffenen Ländern selbst ist eine andere: „Mamdouh Habashi, der Vizepräsident des Weltforums für Alternativen in Kairo, hat deutlich gemacht, dass die Aufbrüche etwa in Ägypten nicht von heute auf morgen zutage getreten sind. Seit 2005 habe es mehr als 5000 Streiks im Land gegeben.“
Was hat die arabische Zivilgesellschaft, was hat die revolutionären Bewegungen so stark werden lassen? Auch hier gab es Antworten am Beispiel Ägyptens. Es sei nicht nur Twitter, gewesen, sondern es seien in vielen Fällen über das Fernsehen verbreitete einzelne Geschichten, die die Bevölkerung mobilisiert hätten. Der Journalist Karim El-Gawhary, seit 2004 Korrespondent des ORF in Kairo und Korrespondent vieler deutschsprachiger Zeitungen berichtete von einer sehr populären Talkshow. Dort habe ein ein Chirurg aus Kairo erzählt, wie er eines Abends von seiner Tochter via Handy zum Tahir-Platz gerufen wurde, wo Demonstranten von Angreifern vertrieben werden sollten. Er müsse sich um die vielen Verletzten kümmern, so die Tochter. Der Arzt kam und half. Dabei behandelte er unter anderem einen 13-Jährigen, der eine große Platzwunde gehabt habe. Der Junge habe sich die Wunde nähen lassen, verbinden lassen habe er sich nicht wollen. Dafür sei keine Zeit, er müsse schnell wieder zurück auf den Platz. Später habe der Arzt den Jungen wiedergesehen, durch einen Kopfschuss getötet. Bei der Erzählung dieses Vorfalls sei der Arzt in der Talkshow zusammengebrochen, berichtete El-Gawhary. Und selbst in der Nacherzählung des dieses Vorfalls wurde in der Friedrichstadtkirche spürbar, mit welchen Emotionen der Widerstand von einer anfänglich kleinen Gruppe unter anderem durch die Massenmedien in die Breite der Bevölkerung übergegangen sei.
Und eine weitere Entwicklung hat Sachau überrascht: „Früher, so El-Gawhary, habe man den Vertretern der reaktionären Kräfte im Fernsehen und im Radio ein Forum gegeben. Jetzt würden die Argumente der Scheichs und Islamisten dort in öffentlichen Diskussionen regelrecht zerpflückt und zurückgewiesen.“ Für Sachau ein weiterer Hinweis auf die Wichtigkeit des Diskurses – nicht nur in den Medien.
Auch das Kräfteverhältnis zwischen der westlichen und der arabischen Welt verschiebe sich, unterstreicht Sachau. „Bislang war es überwiegend so, dass die arabischen Staaten auf das reagierten, was in Europa oder den USA geschah, gesagt oder getan wurde. Inzwischen reagiert der amerikanische Präsident auf die Vorgänge in den arabischen Staaten.“ Das Volk erfahre seine eigene Ermächtigung– mit weit reichenden Folgen auch im Blick auf den Terror. Treffend habe dies Karim El-Gawhary formuliert: Osama Bin Laden ist in Ägypten gestorben, noch bevor er in Pakistan getötet wurde. Deutlich wurde an diesem Abend in der Friedrichstadtkirche: Die Menschen in den arabischen Ländern haben auch in der Öffentlichkeit zu ihrem Selbstbewusstsein gefunden, sie brauchen keine Projektionsfläche mehr. Jetzt gilt ein schöner Satz, der an diesem Abend fiel: „Wir müssen alles dafür tun, dass aus dem arabischen Frühling ein lang anhaltender Sommer wird.“
Erschienen am 11.02.2014
Aktualisiert am 16.04.2014