Kirche gegen Armut - mehr als gut gemeint?
Tagung vom 3. bis 5. März 2011 auf Schwanenwerder
Am 9. Februar vergangenen Jahres hat das Bundesverfassungsgericht die seit 2005 geltenden Hartz-IV-Regelsätze für verfassungswidrig erklärt. Die Kontroverse um die Folgen dieses Urteils hat gezeigt, wie schnell sich Forderungen nach gesellschaftlicher Teilhabe in Diskussionen um die Höhe von Transfereinkommen verlieren. Welche ethischen und politischen Elemente eine sinnvolle Armutspolitik kennzeichnen, und wie die Kirche als Agentin für gesellschaftliche Inklusion funktionieren kann, skizzieren Michael Hartmann, Studienleiter der Evangelischen Akademie zu Berlin, und Prof. Dr. Gerhard Wegner, Direktor des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD, im Rückblick auf die Tagung "Kirche gegen Armut - mehr als gut gemeint?".
Die Kirchen sind wichtige Akteure in der Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung. Sie beziehen politisch Stellung für die Betroffenen und engagieren sich zivilgesellschaftlich für ihre Beteiligung. Die innerkirchlichen und die diakonischen Diskussionen über eine Armutspolitik sind breit entwickelt. Wenn kirchliche Praxis mehr sein soll als vereinzelte Aktivitäten der Barmherzigkeit, muss die Frage diskutiert werden, wie Kirche als Agentin für gesellschaftliche Inklusion funktionieren kann.
Armut hat viele Gesichter, in reichen Ländern andere als in armen. In Deutschland muss niemand verhungern, Sozialstaaten verhindern gemeinhin extreme Armut. Aber dennoch gibt es auch in Deutschland Formen von Armut, die mit sozialer Ausgrenzung einhergehen. Teilhabe an der Gesellschaft wird beeinträchtigt oder verhindert. Armut ist nicht nur die Frage nach vorhandenen materiellen Möglichkeiten, sondern danach, wie man innerhalb einer reichen Gesellschaft menschenwürdig leben kann. Armut ist daher auch in Relation zu Reichtum zu sehen.
In unterschiedlichen Zugängen zur Armutsproblematik wurde bei der Tagung ein breites Spektrum möglicher Perspektiven bürgerschaftlicher, gesellschaftlicher und kirchlicher Armutsbekämpfung im Dialog mit den Sozialwissenschaften und im politischen Kontext aufgespannt. Es reichte von Fragen nach der Rolle der Kirchen in der Zivilgesellschaft bis zur Betrachtung der sozialpolitischen Lobbyarbeit von Kirchen, Diakonie und Caritas für die Armen. Dem Zusammenhang von Armut und Bildung widmeten sich besonders viele der Diskussionen.
Einen Schwerpunkt bildeten die Praxisfelder der Armutsbekämpfung im Kontext von Kirchen und Kommunen. Hier waren zahlreiche Akteure auf der Tagung vertreten. Die Berichte aus der Praxis kirchlicher Arbeit mit von Armut bedrohten Menschen waren besonders eindrucksvoll: Sozialraumorientierte Arbeit, Armenbestattungen, Menschen ohne Papiere, kirchliches Quartiersmanagement, Altersarmut, Armutsprävention in Kindergärten, Arbeit mit Menschen ohne festen Wohnsitz sind einige der Beispiele.
Im Verlauf der Tagung wurden sechs Dimensionen von unfreiwilliger Armut erarbeitet, die bis zum Abschlusspodium immer wieder Referenzpunkte für die Analyse und Diskussion von politischen und bürgerschaftlichen/gesellschaftlichen Strategien zur Vermeidung von Armut und Ausgrenzung bildeten:
1. Materielle Armut: Materielle Armut ist in vielerlei Hinsicht zunächst die entscheidende Erfahrung von Beeinträchtig, die Menschen machen können. Nach wie vor zählen deswegen zu den Armen in Deutschland auch statistisch gesehen vor allem materiell Arme. Dies allerdings auch deswegen, weil diese Dimension am leichtesten umfassend erhoben werden kann.
2. Körperliche Schwäche: Körperliche Schwäche gehört ebenfalls zur Definition von Armut. In der weltweiten Situation ist dies unmittelbar einsichtig, aber auch in Deutschland greift dieses Kriterium. Arme Menschen werden statistisch gesehen schneller krank, sie haben andere Krankheiten als die Wohlhabenden und sie haben vor eine geringere Lebenserwartung, sie treiben weniger Sport, ernähren sich nicht so gesund wie andere und mangeln deswegen auch an körperlicher Stärke.
3. Isolation: Sie bezieht sich auf den mangelhaften Zugang zu Dienstleistungen und notwendigen Informationen. Aufgrund objektiver und subjektiver Bedingungen können sich arme Menschen nicht so gut in den öffentlichen Bereichen bewegen, die eigentlich allen zur Verfügung stehen.
4. Verletzlichkeit: Arme Menschen und arme Familien haben in der Regel weniger Reserven, um sich gegen Schwierigkeiten im Leben physisch und psychisch „puffern“ zu können. Es fehlen ihnen Wahlmöglichkeiten, um schwierige Situationen zu vermeiden oder auch Probleme zu lösen. Ihnen fehlen Ersparnisse und bisweilen auch soziales oder kulturelles Kapital, d.h. Beziehungen und Bildung, die mithelfen könnten, in schwierigen Situationen durch die Entwicklung längerfristiger Perspektiven zurechtzukommen.
5. Machtlosigkeit: Kennzeichnend für die meisten Armutslagen ist die mangelnde Fähigkeit, eigene Lebensbedingungen kontrollieren zu können. Die Umwelt wird deswegen als fremd und bedrohlich erfahren, die das eigene Leben einschränkt, und als das, wovon man abhängig ist. Solche Erfahrungen der Machtlosigkeit haben wiederum unmittelbaren Einfluss auf die seelische und körperliche Gesundheit.
6. Spirituelle Armut: Sie bezieht sich darauf, dass Menschen in Armutssituationen weniger in der Lage sind, ihre eigene Bestimmung bzw. ihre Berufung zu erkennen, aktiv auszuarbeiten und sich auf sie hin zu bewegen. Oft ist die Armutssituation gerade in dieser Hinsicht von Hoffnungslosigkeit und Resignation gekennzeichnet. Es mangelt an Perspektiven für eine bessere Zukunft und an dem Glauben, dass Veränderung möglich ist.
Die Vielfalt der Diskussionsbeiträge belegte die große Bedeutung des Themas Kirche und Armut in der spezifisch deutschen sozialpolitischen Diskussion. Auch aus zukünftigen Debatten über die Gestaltung der Kirche wird diese Frage nicht mehr herauszuhalten sein.
Ohne die Berücksichtigung der Perspektive der von Armut bedrohten und betroffenen Menschen ist Kirchenentwicklung und Gemeindeaufbau in Deutschland kaum mehr möglich. Wie dies allerdings konkret aussehen kann, ist umstritten.
Ein kritisches Resümee der Tagung ist, dass eine wirkliche Inklusion der Armen in die Kirchengemeinden in Deutschland kaum gelingt. Zwar finden sich viele vorbildliche Aktivitäten in den Berichten des ersten Abends der Tagung. Insgesamt bleibt es allerdings dabei, dass sich die Kirchengemeinden beider Konfessionen in den mittleren und oberen Milieus der Gesellschaft angesiedelt haben und allein schon deswegen – unbewusst und ungewollt – deutliche Grenzen gegen die Milieus der Armen aufrichten.
Deutlich wurde auch, dass sich die Armen in der Regel nicht von sich aus an kirchlichen Aktivitäten beteiligen. Die Kirchengemeinde – anders als Caritas und Diakonie – bildet nur selten einen attraktiven Bezugspunkt für sie. Dort treffen sich andere Menschen – mit anderen Vorlieben und Erfahrungen. Deswegen muss am Beginn jedes Engagements der Kirche für die Armen die Frage stehen: Will man die Armen überhaupt unter sich haben? Wird ihre Abwesenheit schmerzlich oder eher mit Erleichterung wahrgenommen?
Gerhard Wegner
Michael Hartmann
Erschienen am 11.02.2014
Aktualisiert am 16.04.2014