Bio, Porsche und die neue Verbindlichkeit
Rückblick auf ersten Abend der Reihe „Verbindlich leben“.
29. August 2013
Doch, es gibt sie längst wieder: Unter dem Dach der evangelischen Kirche sind nach einem Beschluss der 7. Synode der EKD von 1990 inzwischen mehr als 60 Kommunitäten und geistliche Gemeinschaften anerkannt. Als „besondere Sozialgestalt der Kirche“ seien sie eine geistlich wichtige Kraft, die es zu fördern gelte – nicht zuletzt wegen der vielen Menschen, die ein „Kloster auf Zeit“ als Heilungszeit suchen. Oft entwickeln Schwestern- und Bruderschaften, die vielerorts in alten Klostergebäuden leben, verbindliche Ordensregeln und eine liturgische Vielfalt, die in der eher wortbestimmten evangelischen Kirche sonst nur selten zu finden sind. Am ersten Abend der Reihe „Verbindlich leben" stand in der Evangelischen Akademie zu Berlin vor allem die Sehnsucht nach sinnerfülltem Zusammenleben im Mittelpunkt. Am 12. September wird die Abendreihe fortgesetzt.
Im Raum der evangelischen Kirche gab es, historisch bedingt, über lange Zeit einen Argwohn gegenüber Kommunitäten und Klöstern. Doch seit einigen Jahren scheint ein Umdenken eingesetzt zu haben: Geistliche Gemeinschaften werden zunehmend als Chance wahrgenommen, dass nicht nur hauptberufliche Mitarbeiter, sondern auch Laien das geistliche Leben prägen. Anders ausgedrückt: Das Priestertum aller Gläubigen findet in der verbindlichen Gemeinschaft eine moderne Gestalt. „Der Boom der Kommunitäten ist allerdings auch ein Krisenphänomen“, so Professor Dr. Peter Zimmerling am ersten Abend der Reihe „Verbindlich leben“ in der Französischen Friedrichstadtkirche. „Wo die traditionellen Verwirklichungsfelder evangelischer Spiritualität in einer Krise stecken, springen Kommunitäten und geistliche Gemeinschaften in die Bresche und entdecken Symbol und Ritual neu.“ Geistliche Gemeinschaften seien schon allein aus diesem Grund unverzichtbar. Der Leipziger praktische Theologe erkennt einen Trend darin, dass es bei Kommunitäten in Richtung kleinerer Gemeinschaften und hin zu mehr Unverbindlichkeit gehe. „Dahinter steht der gesellschaftlich zunehmende Pluralisierung- und Individualisierungsprozess.“
Eine auffällige Spannung zwischen Verbindlichkeit und Unverbindlichkeit erkennt Jörg Machel, der seit mehr als 30 Jahren als Gemeindepfarrer in Berlin-Kreuzberg arbeitet. „Menschen, die zu uns in die Gemeinde kommen, wollen sich einerseits nicht binden, suchen aber andererseits nach einer gewissen Form von Verbindlichkeit“, so Jörg Machel im Gespräch mit Akademiedirektor Dr. Rüdiger Sachau und Studienleiterin Simone Ehm. Die Verbindlichkeit mache sich für viele Menschen am Lebensstil fest. „Meine Kreuzberger Gemeinde würde es mir deshalb nie verzeihen, wenn ich mir einen Porsche kaufen oder beim nächsten Sommerfest das Bio-Fleisch weglassen würde."
Ist die größere Vielfalt von unterschiedlich verbindlichen Lebensformen innerhalb und außerhalb der bestehenden Gemeindestrukturen ein sinnvoller Weg, um Vitalität und Wachstumskräfte in der evangelischen Kirche zu stärken? Und inwieweit bergen Kommunitäten und geistliche Gemeinschaften ein wichtiges kirchenkritisches und damit reformatorisches Potenzial? Diesen Fragen soll an den kommenden Abenden der Reihe weiter nachgegangen werden. Der zweite Abend findet am 12. September um 18:30 Uhr in der Französischen Friedrichstadtkirche statt. An diesem Abend besteht für Teilnehmer die Möglichkeit, Vertreterinnen und Vertretern aus acht Kommunitäten in „Tischgesprächen“ näher kennen zu lernen.
Erschienen am 11.02.2014
Aktualisiert am 15.04.2014