Perspektiven auf einen vielfach besonderen Ort

Perspektiven auf einen besonderen Ort

Terezín/Theresienstadt – Leben am Ort der Erinnerung

Rückblick auf das Forum und die Exkursion „Terezín/Theresienstadt – Leben am Ort der Erinnerung“ im August 2013

„Die gleichen Häuser, die gleichen Straßen haben Garnisonen, ziviles städtisches Leben und zehntausende Opfer nationalsozialistischer Gewalt beherbergt“, sagte Studienleiterin Claudia Schäfer in ihrem Eingangswort zum Forum über Theresienstadt. Sie brachte damit auf den Punkt, was für viele Besucher des Ortes kaum zu begreifen ist: Dass das Areal der großen Festung ein Ghetto war und davor wie auch danach eine Stadt. Die Studienleiterin berichtet über das Abendforum und die Exkursion.

Der Spannungsbogen des Themas zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft hatte rund 90 Gäste in die Französische Friedrichstadtkirche geführt. Mehrere Perspektiven auf einen vielfach besonderen Ort und seine über 200-jährige Geschichte sollten im Laufe des Abends ermöglicht werden. Neben neuesten historischen Erkenntnissen über das Ghetto Theresienstadt und dessen öffentliche Wahrnehmung, sollte sich der Blick auch auf die Festungsgeschichte des Ortes und stadtplanerische Aspekte in der heutigen Stadt richten.
Der Botschafter der tschechischen Republik in Deutschland Dr. Rudolf Jindrák bedankte sich  in einem sehr persönlichen und eindringlichen Grußwort bei der Evangelischen Akademie für die Aufmerksamkeit, die diesem besonderen Ort seines Heimatlandes in den beiden Veranstaltungen zuteil wird. Für sein Statement hatte er eigens seinen Urlaub unterbrochen und  appellierte an die Zuhörer, sich für den Gedenkort nachhaltig einzusetzen.
Die beiden Referenten des Abends waren nicht nur Experten, sondern Theresienstadt auch über Jahrzehnte persönlich sehr verbunden. Prof. Dr. Wolfgang Benz machte dies in der Diskussionsrunde sehr deutlich, als er von den beeindruckenden Erfahrungen bei der ersten internationalen Historikerkonferenz in Terezín berichtete. In seinem Vortrag betonte er die besondere Rolle des Ortes in der Geschichte des Holocausts; in diesem Zusammenhang hob Benz die Bedeutung der Tatsache hervor, dass Theresienstadt kein Konzentrationslager war, und dass es eine jüdische Selbstverwaltung gab. Die Verschönerungsaktionen, die dem Besuch der Kommission des Roten Kreuzes vorausgingen, der Prominentenstatus vieler Gefangener, vielfältige künstlerische Aktivitäten der Deportierten und ein Film, der nie gezeigt wurde, hätten zu vielfältigen Mythologisierungen geführt, in denen mitunter zynische NS-Ideologie und Täuschungswille fortlebten. Es gelte daher, die Besonderheiten klar zu benennen ohne den Kontext des entsetzlichen Leidens Zehntausender auf dem Weg in die  Vernichtungslager des Ostens auszublenden.
Die Stadtplanerin Uta Fischer setzte in ihrem Vortrag bei der Festungsgeschichte der Stadt an, denn erst die Anlage dieser gewaltigen Festung mit ihren Wallanlagen, dem unterirdischen Gängesystem und den Flutungstechniken machte Theresienstadt zu einem Ort, den die Nationalsozialisten für ihre Vernichtungspläne nutzen konnten. Heute, erläuterte Fischer, vollzögen sich Konversion und Aufarbeitung der Vergangenheit parallel. Das große Hochwasser von 2002 sei dabei trotz aller Zerstörung auch zur Chance geworden, neu über die Zukunft des Ortes und der etwa 1200 dort heute lebenden Menschen nachzudenken. In die anschließende lebhafte Diskussion schalteten sich auch direkt an Projekten in Terezín beteiligte Teilnehmer ein, die die europäische Mittelvergabe und das gescheiterte Leo-Baeck-Zentrum thematisierten.
Bei der Exkursion konnten ebendiese Zusammenhänge von den 35 Teilnehmern selbst vor Ort erkundet werden. Ein erster Gang von der großen Festung über die Neue Eger in die Kleine Festung verdeutlichte die Weitläufigkeit des gesamten Areals. Der Nationalfriedhof mit den beiden großen Installationen von Kreuz und Davidstern dominiert diesen Weg. Die kleine Festung mit ihren Baracken, Tunneln und Erschießungsplätzen steht für ein Militärgefängnis, das im Sozialismus insbesondere in der tschechischen Widerstandsgeschichte eine herausragende Rolle spielte und sich erst nach dem Fall des Eisernen Vorhangs auch anderen Opfergruppen zuwandte. Eine „Spurensuche Festungsgeschichte“ führte die Gruppe über Wälle und gewaltige Anlagen mitten hinein in die Verteidigungsstrategien der Namensgeberin Kaiserin Maria Theresia und ihres Sohnes. Einen spontanen Ruhepol schenkte der Aufenthalt in der zufällig geöffneten Kirche der Stadt und ein gemeinsamer Choral.
Am Abend standen den Teilnehmenden der Exkursion mit zwei Freiwilligen von Aktion Sühnezeichen und dem österreichischen Gedenkdienst Gesprächspartner zur Verfügung, die ein ganzes Jahr in Terezín gelebt und gearbeitet hatten und aus ihren Erfahrungen mit Jugendgruppen berichteten. Anderen jungen Menschen Aspekte des Holocausts begreifbar zu machen, eine Sprache für den unbegreiflichen Schrecken zu finden und insbesondere das Nachdenken darüber anzuleiten, welche Rückschlüsse und Positionierungen für das eigene Leben erwachsen können, war ihnen ein besonderes Anliegen.
Die „Spurensuche Ghetto-Geschichte“ vertiefte die Eindrücke aus diesem Gespräch und führte unter anderem in einen erst in den 90er Jahren entdeckte geheime jüdische Betstube, zu Gleisen für die Transportwaggons und zum jüdischen Friedhof des Ghettos. Uta Fischer gelang es auch hier, Eindrücke zu vermitteln, die weit über das touristische Programm in die aktuellen Debatten um Stadtentwicklung, Denkmalpflege und Tourismus reichen. Literarische Interventionen mit Texten von Künstlern über das Leben im Ghetto vermochten jenseits aller Zahlen und Fakten Raum zu schaffen für eine Annäherung an individuelle Erfahrungen des Ghettos.
Die Tradition des Arbeitskreises Stadtpolitik, mit Bürgerinitiativen vor Ort ins Gespräch zu kommen, wurde auch hier gepflegt. Der Militärhistorische Verein beeindruckte mit einer Führung und seinem Engagement für die Erhaltung der Festungsanlage. Die Untrennbarkeit von Festungs- und Ghettogeschichte wurde hier insbesondere durch Ritzungen deutlich, die an einem Bastionstor zu sehen sind, die und trotz der Identifizierbarkeit als Botschaften von Ghettobewohnern derzeit in keiner Weise vor Witterung oder Zerstörung geschützt sind.
Es entstand der Eindruck, dass die Gedenkstätte Terezín an der Sicherung solcher über die Stadt verstreuter Spuren derzeit wenig Interesse hat und die Stadtverwaltung Terezín mit ihren verschiedenen Instandsetzungsprojekten ganz auf einen militärhistorischen Eventtourismus setzt.

Zum Nachlesen: Theresienstadt - ein Zeitreise

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