Theresienstadt – Eine Zeitreise
Eine Rezension
Uta Fischer und Roland Wildberg
Theresienstadt – Eine Zeitreise
"Es geht darum, dass nicht vergessen wird, was dort geschehen ist.
Theresienstadt sollte aber gleichzeitig eine lebendige Stadt sein."
So formuliert Dagmar Lieblová die doppelte Aufgabe der heute Terezín genannten Stadt. Dagmar wurde als Kind in das Ghetto Theresienstadt deportiert und lebte dort, bis sie nach Ausschwitz verschleppt wurde. Sie überlebte als Einzige Ihrer Familie den Holocaust und ist heute Vorsitzende der Theresienstädter Initiative, einer Vereinigung überlebender Häftlinge. Sie ist zufrieden, dass es heute angemessene Orte zum Gedenken an die Opfer und gute Museen zur Geschichte des jüdischen Ghettos und des Gestapo-Gefängnisses gibt. Nutzungen, die das Gedenken an die Opfer beeinträchtigen könnten, will sie entgegentreten. Sie sieht aber auch die Gefahr, dass eine Musealisierung der gesamten Stadt eine gedeihliche Entwicklung ersticken würde. Dagmar Lieblová ist vielmehr überzeugt, dass eine Stadt ohne Menschen, die in den Häusern und auf den Straßen ganz normal leben und dort ihr Auskommen finden, keine Zukunft hat.
Tatsächlich hat die einstige Garnisonsstadt mit dem Abzug des tschechischen Militärs im Jahr 1997 ihre alte Zweckbestimmung und ihre wirtschaftliche Basis verloren. Fast die Hälfte der städtischen Substanz waren militärisch genutzte Gebäude. 15 Jahre danach ist immer noch ein großer Teil der Stadt von Leerstand und Verfall geprägt. Notwendig ist eine dritte Konversion: Es gilt eine normale Stadt zu schaffen, die sich ihrer vielschichtigen Vergangenheit bewußt ist. Das ist die wichtigste Aufgabe für die Zukunft. Hierzu einen wertvollen Beitrag geleistet zu haben, ist das große Verdienst der Autoren.
Ein erweiterter Tourismus, der sich neben dem Besuch der Gedenkstätten auch für die ungewöhnliche Geschichte und die baulichen Qualitäten des Ortes interessiert, ist daher von großer Bedeutung für die Stadtentwicklung.
230.000 Besucher zählte die Stadt im Jahr 2010, erfreulicherweise meist Schülergruppen. Terezín hat die größte Gedenkstätte der Tschechischen Republik und kandidiert als Einheit von spätbarocker Festungsstadt und Gedenkort für die Aufnahme in das Weltkulturerbe der UNESCO. Doch neben dem Gedenken an die politischen Gefangenen in der Kleinen Festung und einem Blick in das auf Initiative von Vaclav Havel 1990 entstandene Ghetto-Museum in der Großen Festung bleibt den Tagesbesuchern meist kaum Zeit für einen Rundgang durch die Stadt oder gar zu einem vertiefenden Nachvollzug historischer Spuren. Die Autoren Uta Fischer und Roland Wildberg empfehlen deshalb den Besuchern der Stadt, sich der Topografie und Geschichte des Ortes im Ganzen zu vergewissern.
Das handliche Buch bietet kompakte Informationen zu Planung, Bau und Funktionsweise der noch heute erhaltenen eindrucksvollen Festungsanlage. Erzählt wird zunächst die Entstehungsgeschichte Theresienstadts: Drei Kriege des Preußenkönigs Friedrich II. hatten gezeigt, dass das habsburgische Reich an der böhmischen Nordflanke militärisch ohne Sicherung war. An der Mündung der Eger in die Elbe wurde aus diesem Grund eine Bastionärfestung nach französischem Vorbild errichtet. Sie sollte das Elbtal zwischen Dresden und Prag sichern. Die Namenspatronin ist die im Jahr der Grundsteinlegung verstorbene Kaiserin Maria Theresia.
Illustriert durch Zeittafeln, biografische Hinweise zu den Akteuren, historische Pläne und zeitgenössische Darstellungen werden die Hauptfestung und die Kleine Festung dargestellt sowie die Funktion der gesamten Festungsanlage und des für den Verteidigungsfall einsatzbereiten Überflutungssystems erläutert. Ein Glossar mit Fachbegriffen aus dem Festungsbau erklärt das Zusammenwirken der verschiedenen Elemente. Die im Inneren der Hauptfestung um den zentralen Platz errichtete barocke Planstadt wird in einem besonderen Abschnitt ’Spurensuche’ mit ihren wichtigsten militärischen und zivilen Bauwerken vorgestellt.
Theresienstadt war Festung von 1790 – 1888, wurde jedoch weiter als Garnisonsstandort mit Mililtärgefängnis genutzt. Im I. Weltkrieg wurden russische Kriegsgefangene und Deserteure der österreichischen Armee in Theresienstadt festgesetzt. Als prominentester Gefangener starb hier 1918 der Attentäter von Sarajevo an den Folgen der Haft. Vor diesem Hintergrund werden die Entscheidungen des SS-Führers Heydrich nachvollziehbar, Theresienstadt als Gestapo-Gefängnis und Ghetto zu nutzen.
Nach der Besetzung von Böhmen und Mähren durch die deutsche Wehrmacht wurde die Kleine Festung 1940 zum Gestapo-Gefängnis für mehr als 30.000 politische Gefangene, meist Tschechen aus Intelligenz und Widerstand. 2.700 Häftlinge wurden dort ermordet oder starben an Hunger und Krankheit. Zur Umsetzung von Hitlers Anordnung, alle Juden aus dem ’Reichsprotektorat Böhmen und Mähren’ zu entfernen, wurde 1941 die Hauptfestung zum Sammel- und Durchgangslager für Juden umfunktioniert. Erst wurden die Deportierten in die Kasernen eingesperrt, wenig später wurde die Zivilbevölkerung der Festungsstadt zur Aussiedlung gezwungen, um auch die Privathäuser mit jüdischen Häftlingen zu füllen. Ab 1942 wurden auch tausende alte Menschen aus Deutschland und Österreich ins Lager deportiert. Bis zu 58.000 Häftlinge wurden in die nur für 7.000 Menschen gebaute Stadt eingepfercht, mehr als 33.000 starben an Unterernährung und Krankheiten. Bald gingen von Theresienstadt die ersten Transporte in die Vernichtungslager ab. Am 8.Mai 1945 erreichten sowjetische Truppen die Stadt.
Die Autoren ergänzen diese dunkelste Etappe der Zeitreise durch Kurzbiografien der SS-Kommandanten und der ’tragischen Helden’ der jüdischen Selbstverwaltung. Historische Pläne, Fotos und Häftlingszeichnungen vermitteln ein eindrückliches Bild von den unmenschlichen Haftbedingungen - aber auch von den vielfältigen kulturellen Initiativen, die das Lagerleben erleichterten. Auch dieses Kapitel wird durch einen Abschnitt ’Spurensuche’ ergänzt. Die wichtigsten Gebäude und Anlagen werden jetzt in ihrer Funktion für das Gefängnis- und Lagersystem der SS erläutert – ein Stadtrundgang mit doppeltem Boden.
Ohne Vergegenwärtigung der Vergangenheit keine Zukunft. Zum ersten Mal liegt hier ein mitreis(s)endes Buch vor, das die ganze Geschichte der über 200 Jahre alten Festungsstadt erzählt und gleichzeitig ihre aktuellen Probleme vor Augen führt. Die Lektüre begeistert und macht neugierig. Terezín liegt kaum eine Autostunde von Dresden entfernt. Wer eine Reise dorthin erwägt, dem bietet dieses Handbuch eine Zeitreise an. Und wer schon dort war, wird zurückkehren, um die Stadt mit schärferem, liebendem Auge zu sehen.
Hans Tödtmann
Arbeitskreis Stadtpolitik der Evangelischen Akademie zu Berlin
Erschienen am 11.02.2014
Aktualisiert am 28.03.2014