Annette Kurschus

06. Oktober 2013

Predigt 1 über Frage 1 des Heidelberger Katechismus (PDF-Dokument, 144.4 KB)

Annette Kurschus, Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen

Liebe Gemeinde,

in Siegen in Westfalen, wo ich den größten Teil meines bisherigen Lebens verbrachte, hatte der Heidelberger Katechismus immer einen festen Platz im sonntäglichen Gottesdienst. Ich war mit seinen Fragen und Antworten deshalb schon früh vertraut – längst bevor ich inhaltlich irgendetwas damit anzufangen wusste. „Wir hören nun auf die Stimme unserer Mütter und Väter im Glauben“, hieß in der Regel die Einleitung. Und dann folgten, mit feierlicher Strenge vorgetragen, eine, zwei, manchmal sogar drei Fragen mit den entsprechenden Antworten. Besonders ernst wurde dieser Katechismusteil behandelt. Die getragene Stimme manches Presbyters und mancher Presbyterin ist mir noch heute im Ohr.

Sehr direkt können die Fragen sein, die der Heidelberger Katechismus stellt. Beharrlich, wie sie immer wieder noch einmal nachsetzen, es ganz genau wissen wollen:
„Was bedeutet das? Warum tun wir das?
Wozu ist das gut? Was nützt es dir?“
Glauben und Verstehen wollen hier möglichst nah zueinander finden.
Wenn ich im Glauben gewiss werden will, komme ich offenbar ohne ein elementares Wissen nicht aus.

Was ist dein einziger Trost im Leben und im Sterben?
Diese erste Frage des Heidelberger Katechismus ist nicht wie die anderen 128.
Sie nimmt eine Sonderstellung ein.
Damals in Siegen zum Beispiel gehörte sie als fester Bestandteil in jeden Konfirmationsgottesdienst. In manchen Kirchengemeinden ist das bis heute so. Auswendig sprechen die Konfirmandinnen und Konfirmanden an ihrem großen Tag vor der versammelten Festgemeinde die Antwort. Als eine Art Bekenntnis. Gemeinsam sprechen sie. Diejenigen, die den Text sicher können, ziehen die anderen mit. Es fällt nicht auf, wenn jemand dazwischen ist, der verlegen nach den Worten sucht und die Lippen nur teilweise mitbewegt. Oder eine, die entschieden und trotzig den Mund verschließt.

Dass ich mit Leib und Seele,
im Leben und im Sterben,
nicht mir, sondern meinem getreuen Heiland Jesus Christus gehöre.

Es ist nicht ihre eigene Antwort, die die jungen Menschen da sprechen.
Es ist nicht ihr eigenes Bekenntnis.
Vermutlich ist es noch nicht einmal ihre eigene Frage – die Frage nach dem einzigen Trost.
Ich weiß noch, wie ich selber mit dazu gehörte.

Manche werden die Worte schnell wieder vergessen.
Andere werden sich vielleicht irgendwann erinnern.
Wer weiß, welche Spuren in den Köpfen bleiben.
Und im Herzen.

Was ist dein einziger Trost im Leben und im Sterben?
Ursprünglich hieß die Frage: Was ist dein einiger Trost?
Ein winziger Buchstabe Unterschied nur.
Doch dieser winzige Buchstabe macht deutlich:
„Einziger Trost“ ist nicht im Sinne eines Alleinstellungsmerkmals gedacht. Nicht so, als sei jeder andere Trost kategorisch ausgeschlossen.
Im Gegenteil: Es geht um den einen, umfassenden, alle anderen Arten von Trost übersteigenden Trost.

Die Frage nach dem „einzigen Trost“ geht aufs Ganze.
Nicht ein Tübchen Trost ist gefragt, das im Augenblick lindert.
Nicht eine wohlfeile Vertröstung, die für den Moment über die Runden hilft.
Es geht um das, was wirklich trägt.
Im Leben und im Sterben.
Es geht um eine Kraft, die auch dann noch standhält, wenn Katastrophen geschehen – wie vor wenigen in Tagen das Elend der Flüchtlinge vor Lampedusa.

Bei mir verbindet sich mit dem Wort „Trost“ unwillkürlich Musik.
So beginnt etwa Georg Friedrich Händels Oratorium Der Messias mit dem Trost.
Manche haben es im Ohr, wie nach der Eingangssinfonie der Solotenor einsetzt mit der prophetischen Botschaft: Tröstet mein Volk, spricht dein Gott. Die eindringlichen Melodiebögen singen den Trost direkt ins Herz.
Wenig später, im Passionsteil, setzt Händel den Gegensatz zum Trost in Töne: Die absolute Verlassenheit. Da tönt ein Volkschor voller Spott und Häme: Er trauete Gott, dass der würd’ erretten ihn: So mag er retten ihn, hat er Gefall’n an ihm. Die geifernde Menge stürzt sich auf einen einzigen: „Na, wo ist nun dein Gott, auf den du vertraust? Lässt er dich jetzt, wenn du elend dran bist, doch hängen?“ Es ist Jesus, der so gefragt und verhöhnt wird. Der Sohn Gottes. Und wir sehen unwillkürlich andere Menschen – hier in Berlin und an so vielen Orten auf der Welt – an seiner Seite. Geschunden. Verhöhnt. Jämmerlich im Stich gelassen. Als Fuge hat Händel diesen Chor komponiert; eine Stimme beginnt, die anderen kommen nach und nach hinzu, immer lauter wird das Spottlied. Und der Solotenor antwortet – begleitet von beinahe tonlosen Akkorden der Geigen und Bratschen: Diese Schmach brach ihm sein Herz; er ist voll von Traurigkeit. Er schaute umher, ob ein Mitleid sich regte: Aber da war keiner, da war auch nicht einer, zu trösten ihn. Es fröstelt einen geradezu bei diesem Klagegesang. Kein Trost weit und breit.
Niemand da, der tröstet. Niemand.
Händels Musik unterstreicht:
Trost hat es in sich.
Da geht´s wirklich ums Ganze.
Um das, was standhält, wenn nichts mehr trägt.

Trost redet die Dinge weder klein noch schön. Dabei ist die Versuchung groß; wir kennen alle die gut gemeinten Sätze: „Es ist doch in Wirklichkeit nur halb so schlimm!“ „Anderen geht’ s auch nicht besser.“ „Nimm’s dir nicht so zu Herzen.“ „Du kannst ohnehin nichts ändern!“
Trost überspringt nicht leichtfüßig die Gegenwart. Dabei liegt auch das verführerisch nah: „Du wirst sehen, es geht vorüber. Die Zeit heilt alle Wunden!“ „Morgen sieht die Welt schon wieder anders aus.“ „Auf jeden Dezember folgt wieder ein Mai.“
Dabei haben wir vermutlich alle schon erlebt:
Was uns vertrösten soll, hinwegtrösten über erlebte Trostlosigkeit, tröstet nicht wirklich.
Im Alltag sprechen wir vom „billigen“ und vom „falschen“ Trost.
Wir kennen den „Trostpreis“, das „Trostpflaster“, das „Trösterchen“.
Mit leisem Unterton stellen wir fest: „Na, du hast dich aber schnell getröstet!“
Vielleicht verraten solche Redewendungen, wie sehr wir uns nach echtem, wirksamem Trost sehnen.
Nach dem einigen, einzigen Trost.

Das hebräische Wort für „trösten“ – nicham – hat die Grundbedeutung „aufatmen lassen“. Trost befreit, weitet die ängstlich zusammengezogene Brust, das angespannt verzagte Herz. Da kann wieder etwas fließen. Buchstäblich, in Tränen über das Gesicht. Oder ein Stoßseufzer bricht sich Bahn. Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet, lässt Gott durch den Propheten Jesaja ausrichten (Jesaja 66,13). Ein schönes Bild: Trost als Muttermilch Gottes. Er hilft zum Leben, nährt, schenkt Geborgenheit, macht – wie man so sagt – groß und stark.

Das griechische Wort für „trösten“ – parakalein – heißt ursprünglich „herbeirufen“. Gemeint ist: „Hilfe herbeirufen“.
Trost ist also echte Hilfe.
Er lässt nicht alles, wie es ist.
Bringt in Bewegung. Führt weiter.
Stellt sich der Trostlosigkeit entgegen.
Manchmal durch lauten Protest und tatkräftigen Widerstand.

All das schwingt mit, wenn wir die Frage hören:
Was nun also ist dein einziger Trost im Leben und im Sterben?

Die Antwort des Heidelberger Katechismus holt weit aus, so scheint es.
Sehen wir allerdings genauer hin, dann wird deutlich:
Der entscheidende Satz ist ganz kurz.
Trost ist: Dass ich ... nicht mir, sondern ... Jesus Christus gehöre.
Damit ist das Wichtigste gesagt.
Darauf kommt es im Kern an.
Alle anderen Aussagen sind an diese eine angehängt.
Ich gehöre nicht mir selbst, sondern Jesus Christus.
Der einzige Trost liegt in dieser Beziehung.
Genau genommen: In einem Besitzverhältnis.

Das ist erstaunlich.
Ungewohnt. Befremdlich.
Es klingt wohl auch beängstigend für manche Ohren.
Tröstlich jedenfalls nicht unbedingt.

Ich gehöre Jesus Christus:
Wo bleibt da meine Freiheit?
Bin ich denn nicht eigenständig, Herrin meiner selbst?

Meine Eltern haben mir zu meiner Taufe als Säugling einen Taufspruch mit auf den Weg gegeben, der mir lange Zeit nichts bedeutete.
Erst seit einigen Jahren fängt er zu reden an.

Ihr seid teuer erkauft; werdet nicht der Menschen Knechte.
(1.Korinther 7,23)
Mit anderen Worten:
Ihr gehört Christus; unterwerft euch also keinem Menschen.

Niemand außer Christus hat das Sagen über mich.
Kein anderer Mensch. Auch nicht ich selbst.
Keine Erwartung, kein Anspruch.
Keine Krankheit.
Noch nicht einmal der Tod.
Ich gehöre Christus.
Niemandem sonst.

Werdet nicht der Menschen Knechte!
Was tue ich nicht alles von morgens bis abends, um vor anderen Leuten und vor mir selbst gut dazustehen!
Ich versuche allen Erwartungen und Ansprüchen gerecht zu werden.
Dabei sind meine eigenen oft diejenigen, die mich am meisten tyrannisieren. Ich setze mich unter Druck, um niemanden zu enttäuschen; verbiege mich, schiele nach Ansehen und Anerkennung.
Ich knechte mich selbst – und das nicht zu knapp.
Ein seltsames Phänomen – widersinnig geradezu:
Ich knechte mich selbst – um mich selbst zu besitzen, meine eigene Herrin zu sein: Meine Leistung, meine Begabung, mein Einfühlungsvermögen, meine Ausstrahlung ... .
Das lässt rotieren wie ein Hamster im Rad.
In ständiger Angst, dass es am Ende doch nicht genügt.
Eine absurde Knechtschaft:
Ich tue alles, um Herrin über mich selbst zu sein, um mir selbst zu gehören – und bin doch darin: Die Magd meiner selbst.

Denn:
Kein Mensch kann sich selber gut machen.
Gelingendes Leben kann niemand selber schaffen.
Trost kann sich keiner selber geben.

Du gehörst Christus - das heißt: Du bist von dir selbst befreit.
Er tritt für dich ein.
Christus sagt: Deine Sünden sind dir vergeben.
Das bedeutet: Du musst nicht alle Lücken, die du gerissen hast, selber wieder schließen. Das kannst du gar nicht. Du kannst und musst nicht alles wieder gut machen, was du verbockt hast oder schuldig geblieben bist. Du musst, um frei zu werden, nicht selber bluten.
Ihr seid teuer erkauft.
Denn – so sagt es der Heidelberger Katechismus:
Er hat mit seinem teuren Blut für alle meine Sünden vollkommen bezahlt und mich aus aller Gewalt des Teufels erlöst.


Deshalb muss ich mich nicht verbiegen.
Mich vor keinem Menschen beugen oder klein machen;
niemandem mehr gehorchen als Gott.
Noch nicht einmal der Tod wird einmal die letzte Macht über mich haben.

Das ist wirklicher Trost.
Der einzige, einige Trost.
Dieser Trost macht Beine.
Ruft zum Widerspruch auf.
Befreit zu tätigem Widerstand.
Auch jeder einzelne der Flüchtlinge, die vor dem Elend in ihrer Heimat fliehen und Schutz suchen bei uns in Europa, gehört Christus.
Niemand anders hat das Sagen über diese Menschen.
Niemand hat das Recht, ihnen ihre Würde zu nehmen.

Unser einziger Trost im Leben und im Sterben muss sich auch hier bewähren.
Und er kann es – auch durch uns.
Gott sei Dank.

Ich bitte Sie, die Predigt mit mir gemeinsam abzuschließen, indem wir zusammen die Antwort auf die Frage 1 des Heidelberger Katechismus sprechen (EG S. 1331):

Was ist dein einziger Trost im Leben und im Sterben?
Dass ich mit Leib und Seele
im Leben und im Sterben nicht mir,
sondern meinem getreuen Heiland Jesus Christus gehöre.
Er hat mit seinem teuren Blut
für alle meine Sünden vollkommen bezahlt
und mich aus aller Gewalt des Teufels erlöst;
und er bewahrt mich so,
dass ohne den Willen meines Vaters im Himmel
kein Haar von meinem Haupt kann fallen,
ja, dass mir alles zu meiner Seligkeit dienen muss.
Darum macht er mich auch durch seinen Heiligen Geist
des ewigen Lebens gewiss
und von Herzen willig und bereit,
ihm forthin zu leben.

 

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