„Europa – ein neues Narrativ?“

Europa – ein neues Narrativ?

Impulsvortrag von Dr. Ulrike Guérot bei der Tagung „Wo ist das neue Narrativ?“

25. November 2013

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Sehr geehrte Damen und Herren,

1.) Das Narrativ von Europa, das was die europäische Attraktion ausmacht, haben wir in Fernsehbildern aus Kiev in den letzten Tagen wieder sehen dürfen: Tausende von Menschen, die für eine europäische Ausrichtung der Ukraine demonstrieren, weil Europa immer noch sinnbildlich für eine Lebensweise steht, die in unvergleichlicher Weise Demokratie, Menschen- und Bürgerechte sowie moderne zivilisatorische Errungenschaften und Ziele wie Umweltschutz und soziale Gerechtigkeit verteidigt. Europa steht für ein ökonomisches Konzept der sozialen Marktwirtschaft und Solidarität das einen ungefesselten Kapitalismus in seine Schranken weist und eine moderne work-life Balance verteidigen will: damit ist Europa eine Marke, gleichsam ein Markenprodukt, das weltweit allergrößtes Ansehen genießt – nur leider nicht mehr innerhalb Europas selbst – wie es jüngst Pascal Lamy in einem Interview formulierte.

2.) Weil Europa indes innerhalb seiner Grenzen (bzw. innerhalb der Grenzen der EU) einen dramatischen Ansehensverlust erleidet – die Wahlbeteiligung für die EP Wahlen wird europaweit auf durchschnittlich knapp 40% geschätzt – nimmt anti-europäischer Populismus in zahlreichen Mitgliedsstaaten der EU zu: AfD, Le Pen, Wilders, Wahre Finnen; Der Gedanke, diese Parteien könnten bei den nächsten Wahlen ins EP einziehen und vielleicht sogar 30% oder mehr der Parlamentssitze erzielen, lässt derzeit all jene, die noch an Europa und seine Attraktivität glauben, fast hektisch nach einem neuen Narrativ suchen. Als könnte man damit einen Le-Pen-Wähler überzeugen! Das zutiefst undeutsche Wort „Narrativ“ erfährt im Übrigen in den letzten Jahren eine ziemlich interessante Inflation; ich beobachte, wie es seit 3-4 Jahren, krisenbedingt, in die deutsche Sprachlandschaft aufgenommen wird und durch den Europa-Diskurs huscht. Zuvor gab es diese Wort nicht, es war gänzlich unbekannt; ich erinnere mich, als ich selbst zum ersten Mal vom „europäischen Narrativ“ sprach und mich dabei unwohl fühlte.

3.) Heute könnte ich keine Antwort mehr auf die Frage nach einem europäischen Narrativ geben: Denn was ist ein Narrativ? Eine Geschichte, eine Story, eine Erzählung? Hier liegt glaube ich der Grund für ein fundamentales Missverständnis, welches ich im Folgenden beleuchten möchte. Denn, so meine These, brauchen wir kein neues Narrativ, keine neue Erzählung von und über Europa. Die Bürger Europas wollen keine schöne Erzählung über Europa, der sie wieder Glauben schenken oder in die sie wieder Vertrauen fassen könnten. Denn es geht nicht um ein europäisches Märchen. Die europäischen Bürgerinnen und Bürger wollen – zurecht - eine andere europäische Realität, vor allem eine andere wirtschaftliche und soziale Realität. Denn diejenigen – vor allem die südlichen EU-Mitgliedsstaaten – die heute ein Problem mit Europa haben, haben mit ihrer Europakritik ja nicht unrecht: In der Form, wie Europa heute sozio-ökonomisch funktioniert, ist vieles in seinen Entscheidungsprozessen nicht nur undemokratisch, sondern für viele auch zutiefst unsozial. Ein EU-Mitgliedsland hat in den vergangenen Jahren die Eurozonen-Governance dominiert und eine Wirtschaftspolitik gemacht, die  nicht unbedingt gut für die anderen Länder war; und die Bürger der anderen Länder können in diesem einen Mitgliedsland nicht wählen: dies umschreibt, kurz umrissen, das europäische Demokratiedefizit. Das Problem des Narrativs scheint mir daher ein umgekehrtes zu sein: nämlich dass wir trotz der vielen europäischen Sonntagsreden in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten nicht das vorangetrieben haben, was wir versprochen haben zu tun, damit Europa, der Euro funktioniert oder funktionieren könnte: nämlich eine politische Union zu schaffen. Vor allem das im Maastrichter Vertrag festgelegte Versprechen einer „ever closer union“ haben wir nicht eingelöst, sondern haben uns im Gegenteil stückweise von ihm entfernt. Wir haben immer mehr zugelassen, dass das Insistieren auf nationalstaatlicher Souveränität das originär nach-nationale europäische Projekt in seinen Grundfesten zur langsamen Erosion bringt. Nicht die Narration, sondern die Nicht-Realisierung der europäischen Ursprungsgeschichte, ist das Problem: Europa braucht darum kein neues Narrativ! Es müsste lediglich endlich das alte Versprechen einlösen, dass da lautet: Europa ist das Projekt der Überwindung von Nationalstaatlichkeit im 21. Jahrhundert. Denn es sind die Nationalstaaten, die heute den Weg zu einem konsequent demokratischen und damit konsequent sozialen Europa verstellen. „Alle Macht den Räten“, war einmal ein sowjetischer Leitspruch. Heute scheint es fast, als hätte die EU ihn usurpiert. Ein soziales, politisches, demokratisches Bürger-Europa kann nicht funktionieren, solange die Nationalstaaten die Autorität über den Integrationsprozess für sich beanspruchen! Es führt in die Technokratie-Falle.

4.) Politik, und damit auch europäische Politik, ist über Realitäten und nicht über Erzählungen. Die alte-neue Idee von Europa als zivilisatorisches Leitmotiv nach-nationaler Politik ist richtig und gut, aber das augenblickliche europäische System wird diesem nicht gerecht. Insofern ist die Kritik der Europa-Gegner ernst zu nehmen: wir brauchen kein neues Narrativ, sondern eine andersgeartete neue europäische Demokratie, die in der Lage ist, Europa wieder mit sozialer Gerechtigkeit zu verbinden. Denn soziale Gerechtigkeit ist als solches ein Alleinstellungsmerkmal europäischen Denkens!
5.) Europa ist also zunächst eine Idee. In seinen Ursprüngen ist Europa ein Mythos, eine sprachliche Wortschöpfung, ein Begriff, der etymologisch um das 15 Jahrhundert herum entstand und 1507 erstmals kartographisch erfasst wurde: diese erste kartographische  Repräsentation der Mächte Europas ist mit dem antiken Mythos der Entführung der vorderasiatischen Königstochter durch den in einen Stier verwandelten Zeus zusammengeschlossen. Europa ist also das, worauf man schaute, wenn man von der Antike an nach Westen blickte, ein Begriff des anderen: die Genese einer neuen, ideellen Vorstellung eines politischen Gemeinwesen der ‚neuen Welt’ in Abgrenzung zur Antike.

6.) Dieses geographisch nicht klar umrissene, weil ideell fundierte Gemeinwesen ‚Europaea’ ist über die letzten fünf Jahrhunderte – ungeachtet zahlreicher Rückschläge, Eruptionen von Nationalismen und schrecklicher Kriege – immer weiter zu einer „imaginated community“ (einer „imanigierten Gemeinschaft“) geworden. Es ist ein konsequent nach-nationales Projekt, in dem die normative Bindung an universelle Prinzipien von Demokratie und Menschenrechten zugleich die Brücke und das verbindende Element zwischen den vielfältigen Kulturen und Sprachen ist, die den Reichtum des europäischen Kontinentes und seiner Regionen ausmachen. Europa als Idee ist damit auch die De-Konstruktion von früh-neuzeitlichen Imperien, im Kern ein gleichsam universalistisches Prinzip, das letztlich eine Weltregierung zum Ziel hat; eine Idee eben, die in Europa ihren geographischen Ausgang nimmt.
Die EU ist das aktuelle historische Experimentierlabor, in dem konkret versucht wird, neue politische und rechtliche Gestaltungsformen für transnationales Zusammenleben zu entwickeln. In diesem Sinne ist es weltgeschichtlich das einzige und auch aufregendste zivilisatorische Projekt, Immanuel Kants Vorstellung einer „Welt des ewigen Friedens“ durch den Zusammenschluss von Staaten auch einer transnationalen Bürgergemeinschaft einen Schritt näher zu kommen. Die EU ist somit ein Projekt der Post-Moderne, des 21. Jahrhunderts, deren große Aufgabe es sein wird, im Nachgang zur Globalisierung ein demokratisches System für globale Wohlstandsverteilung zu schaffen und damit einen Beitrag dazu zu leisten, den Charakter und die Struktur von Politik und Demokratie im globalen Maßstab radikal neu zu definieren, jenseits klassischer Begriffe von nationalen Grenzen, Staatlichkeit und Souveränität. Die Überwindung der Koppelung von Demokratie an den Begriff des Nationalstaates ist hierbei – wie bei den Ursprüngen der Europäischen Integration – immer noch zentral – beziehungsweise heute, bei Integrationsschritten wie der Bankenunion, zentraler denn je.

Europa ist der Versuch der Schaffung einer nach-nationalen Demokratie, in dem angesichts von globalen Wertschöpfungs- Ressourcen, Cyber- und Versorgungsketten der klassische Begriff nationalstaatlicher Souveränität konsequent in Frage gestellt wird. Ziel ist die Entstehung eines transnationalen politischen Gemeinwesens, das sich auf der Grundlage von Freiheit, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, good govenance und Menschenrechten freiwillig und unter Berücksichtigung kultureller Diversität in einer neuen Staatsform, basierend auf dem Prinzip der res publica europaea, zusammenschließt.

7.) Darum sollten wir die Sprache überprüfen, in der wir über das europäische Projekt reden, denn falsche Begriffe führen zu falschen politischen Lösungen. Derzeit diskutieren wir Europa im wesentlichen vertikal: mehr oder weniger Europa.
Aber der vertikale Ansatz erscheint mir falsch, denn wir sind Europa, Europa schwebt nicht über uns, geschweige denn kann man „aussteigen“. Aber wir müssen Europa anders organisieren und horizontal denken: wie schaffen wir eine europäische Demokratie, ein anderes Europa, anders legitimiert?
Auch der Begriff „Wirtschaftsregierung“ ist irreführend, denn was ist „Rest-Regierung“? Um diese Frage drücken wir uns herum: Bildungspolitik, Verteidigungspolitik? Kostet das nichts? Politik ist die gemeinsame Entscheidung über gesellschaftliche Präferenzen. Müssen wir da nicht eigentlich über alle Politikbereiche gemeinsam entscheiden, z.B. über die Frage Krieg oder Frieden? Frankreich hat z.B. 1 Mio pro Tag für seinen Libyen-Einsatz ausgegeben, Deutschland nicht. Wollen wir die Franzosen jetzt wegen ihres Budget-Defizit vorführen, weil sie die Menschenrechte verteidigt haben und wir nicht? Es geht um Regierung, nicht „Wirtschaftsregierung“ in Europa – oder zumindest sollte es darum gehen.
Governance ist auch ein Unwort. Die EU müsste sich von Governance zu government fortentwickeln. Denn derzeit ist de facto die EZB der Souverän im Sinne von Carl Schmitt (wer über den „Ausnahmezustand“ entscheidet); im sog. „europäischen Semester“ entscheiden de facto Beamte, nicht Parlamente über Staatshaushalte. Die  nationale Politik ist entmachtet und damit der europäische Bürger entmündigt; und dies führt zu Populismus. Wir brauchen mehr Demokratie in Europa! Das europäische System braucht Opposition und Reversibilität von Entscheidungen. Subsidiarität wiederum erscheint oft nur als der Versuch, durch die Hintertür Kulturgrenzen wieder zu Rechtsgrenzen zu machen.

10.) Aber wie kommen wir dahin? Europa erscheint derzeit in einer Art „Catch-22“: die EU kann derzeit politisch die Lösungen nicht hervorbringen, die wir rechtlich brauchen, um den Euro funktionsfähig zu machen, z.B.  eine Vertragsänderung, die eine volle Bankenunion inklusive einer gemeinsamen Bankenabwicklung und einen gemeinsamen Einlagesicherungsfonds erst möglich machen würde.
In Deutschland heißt es oft: das war so nicht vorgesehen, eine Fiskalunion oder eine Haftungsgemeinschaft, das haben wir nie gewollt. Aber erstes stimmt das nicht, denn der Maastrichter Vertrag war von Anfang nur halbfertig und auf Weiterentwicklung zur politischen Union angelegt (Amsterdam, Nizza, Laeken, Verfassungsvertrag, Lissabonner Vertrag, nur wurde diese Absicht nicht eingelöst). In Deutschland wurde dies in den 90er Jahren unter dem Stichwort Krönungstheorie diskutiert. Und zweitens: selbst wenn es stimmt: why should the death govern the living? Soll heißen: Recht muss fortentwickelt werden können im Hinblick auf das, was Europa, vor allem die Eurozone, jetzt braucht, um endlich demokratisch und sozial ausgewogen zu funktionieren: Euroland ist das Land, für das wir eine Demokratie konzipieren müssen.

11.) The story of Europe ist nämlich, dass wir längst gewissermaßen ein Land sind, nämlich Euroland. Es ist z.B. sinnlos, Exportzahlen innerhalb der Eurozone zu messen, wir tun es auch nicht zwischen Hessen und Mecklenburg-Vorpommern. Aber anstatt Euroland als eine aggregierte Volkswirtschaft zu verstehen, lassen wir immer noch die nationalen Volkswirtschaften wie bei der Werbung der Duracel Batterien gegeneinander antreten in einem „race tot he bottom“, anstatt ein steuer- und sozialpolitisches level-playing field, also einen gleichen Rechtrahmen (und nicht gleiche Lebensverhältnisse!) zu schaffen.

12.) Wie könnte eine Weiterentwicklung Europas aussehen? Meine Idee – ganz kurz umrissen bzw. skizziert mit groben Strichen - wäre, das deutsch-französische Papier vom Mai 2013 zur Vorlage zu nehmen. Darin wird die Eurozone weiter politisch und fiskalisch integriert, bleibt aber offen und inklusiv für andere.
Auch wenn es dort nicht so ausgesprochen wird, so könnte man interpretieren, dass in diesem Papier angedacht wird, das ESM zu einem zukünftigen Finanzministerium weiter zu entwickeln. Der in diesem Papier vorgeschlagene Eurogruppen-Präsident könnt so über Zeit zu einem europäischen Finanzminister werden, einem European Treasory, so wie es Wolfgang Schäuble und Jean-Claude Trichet schon in ihren jeweiligen Karlspreis-Reden gefordert haben. Europa hätte dann den Embryo einer starken Exekutive, eine sog. fiscal capacity, also den Ausgangspunkt für eine Art Eurozonen-Budget. Man könnte dann an gemeinsame fiskalische Stabilisatoren denken, z.B. an eine europäische  Arbeitslosenversicherung, die ja auch schon in der EU-Kommission im Gespräch ist. Dazu würde man eine starke Legislative schaffen, ein EP mit Initiativrecht und  Budgetrecht, das wiederum verschränkt wird mit den nationalen Parlamenten.
Dies wäre der Nukleus eines nach-nationalen Eurozone als neuer „imaginierten Gemeinschaft“, demokratisch, sozial, ein freiwilliger nach-nationaler europäischer Zusammenschluss auf der Grundlage von Demokratie, sozialer Marktwirtschaft, dem Gleichheitsgrundsatz, den Werten der französischen Revolution und entsprechend dem Montesquieu’schen Prinzip von Gewaltenteilung. Euroland würde der „Technokratie-Falle“ entgehen und sich ein Stück weit auf die Reise ins universelle Reich von Immanuel Kant’s ‚ewigen Frieden’ begeben, sozialer Friede eingeschlossen. Das ist es, was Europa der Welt zu bieten hat, bieten könnte.
Dafür hat man gerade in Kiev demonstriert, meine Damen und Herren: verspielen wir nicht das europäische Erbe, nicht die europäische Idee – und nicht die europäische Zukunft!

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