Bildungsvielfalt in Gemeinde und Schule

Bildungsvielfalt in Gemeinde und Schule

Pädagogischer Tag des Sprengels Neuruppin

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Dr. Rüdiger Sachau, Templin, 28. August 2009, Predigt im Eröffnungsgottesdienst

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Wir hören als Predigttext aus dem Evangelium nach Matthäus im 4 und 5 Kapitel:

17 Seit der Zeit fing Jesus an zu predigen: Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen!
23 Und Jesus zog umher in ganz Galiläa, lehrte in ihren Synagogen und predigte das Evangelium von dem Reich und heilte alle Krankheiten und alle Gebrechen 25 und es folgte ihm eine große Menge.
1 Als er aber das Volk sah, ging er auf einen Berg und setzte sich; und seine Jünger traten zu ihm. 2 Und er tat seinen Mund auf, lehrte sie und sprach…

1. Lerngemeinschaft unterwegs
Liebe Geschwister,
„und Jesus zog umher“ dieser Satz hat es mir seit vielen Jahren angetan. Jesus zog umher, das war seine Hauptbeschäftigung, die zwischen den Gleichnissen und Reden, den Wundern und Streitgesprächen des Neuen Testaments immer wieder hindurch blitzt.
Und er war nicht allein, er wurde begleitet von Männern, deren Namen wir zum Teil kennen, und von Frauen, deren Namen wir nur in wenigen Fällen wissen. Gemeinsam zogen sie umher. Und er lehrte sie über das Reich Gottes, über das Leben. Und sie lernten, im Zuhören, im gemeinsamen Handeln, im gemeinsamen Leben mit Jesus, der ihr Rabbi, ihr Meister, ihr Vorbild und Lehrer war.
Und Jesus lernte auch, z.B. von einer hartnäckigen Ausländerin, die meinte, dass ihr wenigstens die Brotkrümel zukommen sollten, die von der Herren Tisch fallen.
Es war eine Lehr- und Lerngemeinschaft, die sich drei Jahre mit Jesus durch Galiläa und Judäa bewegte. Das fasziniert mich seit meiner Jugend. Ja, ich wäre gerne mitge-zogen. Wenn ich mit meinen Freunden aus der Evangelischen Jugend unterwegs war, wenn wir wanderten, jeden Tag mit einem biblischen Text begannen, wenn wir abends am Feuer sangen und beteten, dann habe ich mich als Jünger Jesu erlebt.
Da meldet sich eine skeptische Stimme in mir: Du bist ein heilloser Romantiker, das war in deiner Jugend und längst bist du ziemlich sesshaft und gesetzt geworden, was hältst du dich mit diesen alten Geschichten auf? -- Vielleicht geht es ihnen auch so und das schöne Bild erscheint Ihnen als naive und unrealistische Fantasie?
Aber es gibt auch die andere Stimme in mir – und wie ich hoffe auch in Ihnen, die sagt: Lass dir deine Träume nicht nehmen. Träume, die wir allein träumen, sind Schäume - aber die Träume, die wir teilen, sind der gemeinsame Weg in eine neue Welt.
Warum sollen wir nicht einen gemeinsamen Traum haben, der bis in unsere tägliche Wirklichkeit hinein ragt, in Templin und Berlin, in Neuruppin und Eberswalde, in Pots-dam und Oranienburg? Einen Traum von einer Kirche, die lehrend und lernend unter-wegs ist. Gemeinsam unterwegs in der Verschiedenheit der Begabungen und Talente – ist das ein Bild für uns heute an diesem pädagogischen Tag im Sprengel Neuruppin, den wir in Templin begehen?

2. Bildungsvielfalt und Gemeinschaft
Wer lernt? Natürlich Schülerinnen und Schüler, die Kleinen und die Großen, aber auch die ganz Großen, wir, die Erwachsenen lernen. Lebenslanges Lernen, das gilt für Sie und für mich. Das ist auch gar nicht besonders modern, denn die Verkündigung Jesu, das ganze Evangelium fordert uns immer wieder auf: Kehrt um, denkt neu, verändert euch – das Reich der Himmel ist schon nahe. Ja es ist mitten unter euch, wer kann da noch so bleiben wie er schon immer war?
Auch wenn alle angesprochen sind, auch wenn alle sich lebenslang bilden und formen, auch wenn wir alle täglich zu Buße und Umkehr gefordert sind, wird das ziemlich un-terschiedlich aussehen müssen. Schauen wir uns hier in der Kirche um, wer alles da ist. Denken wir einen Augenblick an unsere Klassen und Konfirmandengruppen, an die Kinder aus der Christenlehre, an die Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Was für unterschiedliche Menschen sind uns anvertraut, wie unterschiedlich sind wir!
Auch das ist gar nichts Neues, wir brauchen uns nur die Gruppe derjenigen vorstellen, die mit Jesus in Galiläa unterwegs waren, die seine Predigten hörten und ihm nachfolg-ten. Exemplarisch stehen die zwölf Jünger Jesu für sehr unterschiedliche Persönlich-keiten und Typen: Die beiden Brüderpaare Petrus und Andreas, sowie Jakobus und Johannes. Dann Philippus, Bartholomäus, Thomas und Matthäus, der ehemalige Zöll-ner, der andere Jakobus und Thaddäus, Simon Alphäus und Judas. Vor meinem inne-ren Auge habe ich eines dieser großen Abendmahlsgemälde, sagen wir von Leonardo da Vinci. Da sitzen sie alle schön brav nebeneinander, aber was für unterschiedliche Typen. Eingefroren im Augenblick des Gemäldes – aber wenn ich mir die in einer Gruppe der Erwachsenenbildung vorstelle… Wie wird aus einem solchen Haufen Indi-viduen eine Gemeinschaft?
Bildungsvielfalt in Gemeinde und Schule haben Sie den heutigen ersten Pädagogi-schen Tag des Sprengels Neuruppin überschrieben. Die Liste der 28 Projekte, die sich auf dem Markt präsentieren, lässt ahnen, dass das mit der Vielfalt ernst gemeint ist. Und ich habe in den Vorgesprächen begriffen, dass alte Alternativstellungen von Chris-tenlehre und Religionsunterricht längst der Einsicht in eine vielfältige, kreative und ge-segnete Landschaft von unterschiedlichen Wegen gewichen sind, die zum gleichen Ziel führen. Die Brücken zwischen Gemeinde und Schule ausbauen, das ist die Aufga-be dieses Tages, damit werden sich auch die Vorträge befassen.
Mir ist wichtig: Es gibt nicht einen Weg des Lernens in der Nachfolge Jesu, der für alle der richtige ist. Es gibt viele Wege. Es gibt nicht eine immer und überall gleiche Lern- und Vermittlungsform, die zu allen Zeiten die Beste ist. Sondern in veränderten Zeiten brauchen wir veränderte Formen, sonst verlieren wir das Ziel aus den Augen. Wenn es nicht einen Weg gibt, sondern eine Vielfalt der Wege, wenn es nicht einen Jünger gibt, sondern zwölf sehr unterschiedliche, wenn es so viele unterschiedliche junge Men-schen gibt wie Sterne am Himmel, dann müssen wir uns fragen, wie diese Vielfalt mit einer gemeinsamen Ausrichtung zusammen passt, wie Pluralität und Gemeinschaft zu-sammen gehören?

3. Individualität und Gemeinschaft
Das ist für mich die eigentlich spannende Herausforderung unserer Zeit, und sie gilt für alles kirchliche Handeln in Schule und Gemeinde: Wie gelingt es uns, die individuelle Entwicklung achtsam zu fördern und zugleich gemeinsames Leben zu gestalten? Und wie werden Sie, die Sie in einem großen Sprengel an vielen Orten Tag für Tag, Woche für Woche, Jahr um Jahr ihren Dienst tun, in den Schulen und den Gemeinden - oft al-lein -, wie werden Sie zu einer Gemeinschaft, die jeden aufmerksam und wertschät-zend wahrnimmt und zugleich jedem sein Recht lässt an ihrem Ort auf seine Art das Rechte zu tun? Es gilt darum, die gottgeschenkte Vielfalt in eine Gemeinschaft zu brin-gen, und ich sage sehr deutlich: das ist eine geistliche Aufgabe, nicht nur eine pädago-gische und soziale oder kirchenpolitische.
Liebe Schwestern, liebe Brüder, jedem von uns ist zugesagt, dass Gott uns in unserer Einzigartigkeit ansieht. Jeder und jede hat Talente, Gaben bekommen, die nicht ver-graben, sondern eingesetzt und genutzt werden sollen.
Bildung beginnt damit, dass wir in jedem Menschen sein Ebenbild Gottes sehen. Bil-dung beginnt damit, dass wir uns bemühen jeden Menschen so anzusehen, wie Gott ihn gemeint hat. Bildung beginnt damit, dass wir uns in unserer Verschiedenheit anse-hen lassen. Alles beginnt mit einem anderen Blick, mit einer Befreiung, einer Befreiung von Vorurteilen, von Uniformität von Kollektivzwängen.
Diese Befreiung von den Erwartungen der anderen und auch von den Erwartungen an mich selbst, ist frohe Botschaft für Schülerinnen und Schüler, für Lehrerinnen und Ka-techeten, für Pfarrer und Oberkirchenrätinnen.
Und weil wir befreiten Individuen unsere Freiheit nicht für uns behalten sollen, geht es darum, wie wir zur Gemeinsamkeit kommen können. Jetzt könnte ich von Freiheit und Verantwortung sprechen, von Luthers Definition eines Christenmenschen als freiem Herrn und dienstbarem Knecht. Das tue ich aber nicht, denn das kennen wir alle.
Ich möchte Ihnen lieber eine Geschichte erzählen, eine Erfahrung aus der Praxis von Individualität und Gemeinschaft im Lernen. Ich war fünf Jahre Elternvertreter in einer Integrationsklasse in Schleswig-Holstein. Dort wurden Kinder mit körperlichen und geistigen Behinderungen in einer Klasse an einem Gymnasium gemeinsam mit den Kindern ohne Behinderung unterrichtet.
Dieses Experiment war hart umstritten. Für einige Kritiker war es undenkbar, dass so etwas an einem Gymnasium stattfinden könne. Ich habe mich damals für diese I-Klasse eingesetzt, weil doch grade die, die durch Herkunft und Bildungsgang bevorteilt sind, diejenigen sein müssten, die Schwächere und Benachteiligte in ihre Mitte auf-nehmen können. Und weil ich meinte, dass diejenigen, die später Verantwortung in der Gesellschaft zu übernehmen haben, diese auch schon auf dem Weg einüben und be-weisen könnten.
Wie würde das in der Praxis gehen? Michel war schwer spastisch. Er hatte nicht nur Mühe, sich verständlich zu machen, was nur mit einem Sprachcomputer ging, er war auch durch die schweren Geburtsschäden in seiner geistigen Entwicklung begrenzt.
Nun ging es im Matheunterricht um den Kreisumfang. In Gruppen lernten die Schüle-rinnen und Schüler, erarbeiteten sich die Zahl Pi. Dann ging es darum, die neuen Ein-sichten auch Michel und Johanna, einem Mädchen mit Down-Syndrom, plausibel wer-den zu lassen. Also zog die Klasse raus auf den Schulhof und malte mit Kreide einen Strich oben an den Reifen von Michels Elektro-Rollstuhl und einen auf den Asphalt. Michel fuhr und jauchzte als der Strich an seinem Rad nach exakt einer Umdrehung wieder oben an der gleichen Stelle war. Johanna und ein Schüler maßen die Strecke auf dem Boden, die Michel gefahren war - Kreisumfang praktisch.
Liebe Geschwister, ich könnte noch viele Geschichten aus der I-Klasse erzählen, Ge-schichten der Gemeinschaft von sehr, sehr unterschiedlichen Menschen. Das, was mich bis heute an dieser Erfahrung bewegt, ist die Tatsache, dass wir alle gelernt ha-ben, weil wir uns gemeinsam als sehr unterschiedliche Menschen auf den Weg ge-macht haben:
Die Schülerinnen und Schüler, mit und ohne Behinderung, die Lehrer, der Direktor, wir Eltern, auch die Geschwister. Ich möchte diese späte Schulerfahrung nicht missen.

4. Auf dem Lern- und Lebensweg
So stelle ich mir den Lern- und Lebensweg in der Nachfolge Jesu vor: Vielfältige Indivi-dualität kann in der Gemeinschaft zur Entfaltung kommen und die Gemeinschaft wird reich. Alle, die Kritiker der I-Klasse, die glaubten, dass die Kinder mit Behinderung die anderen im Vorankommen bremsen würden, haben sich geirrt. Nach fünf Jahren waren sie sogar leistungsstärker, selbstbewusster, verantwortlicher und kreativer als die pa-rallelen Klassen ohne Integration.
Ein Blick in die Neurowissenschaften und Lernforschung sagt ganz klar: Man lernt am besten, wenn das Lernen Spaß macht, wenn Emotionen beteiligt sind, wenn ich Ver-bindungen herstellen kann zwischen altem und neuem Wissen. Wir merken uns Dinge dann, wenn sie uns sinnvoll und anwendbar erscheinen.*
Liebe Schwestern und Brüder, die Gemeinschaft wird reicher, wenn die Vielfalt zum tragen kommt. Das gehört zu meinem Traum von Kirche. Einer Kirche die damit be-gann, dass Jesus umher zog, in den Synagogen lehrte und das Evangelium predigte. Er zog durch Felder und Olivenhaine, er redete von der Saat und von den Vögeln, er deutete die Welt, die die Menschen vor Augen hatten und die sie nun neu zu sehen lernten. Jesus war ein Lehrer, er vermittelte das, was lebenswichtig war. Wer ihm nachfolgt, für der kann Bildung nur in einem umfassenden Sinne verstehen, sie ist mehr als bloßes Wissen, mehr als Informiertheit, mehr als Erziehung. Ich sehe das Christentum als eine Lerngemeinschaft: Jünger und Jüngerinnen Jesu, die gemeinsam auf dem Weg sind.

5. In Vielfalt leben
Die Vielfalt, die wir heute in dieser Kirche in Templin, an diesem Tag der Bildung in Gemeinde und Schule sehen dürfen, die Vielfalt der Wege in Schule, Gemeinde und ich rechne auch die Akademie dazu, sie ist ein großes uns anvertrautes Geschenk.
Aber das reine Lob der Vielfalt ist zuwenig, denn sie ist auch ein Problem. Es ist eine reizvoll-überfordernde Vielfalt von Möglichkeiten die wir vor Augen bekommen. Dieser Pluralisierungserfahrung in der modernen Welt kann niemand entgehen, außerhalb der Kirche nicht - wir brauchen nur den Fernseher mit 35 und mehr Programmen anschal-ten - und auch nicht in der Kirche.
Und je mehr wir über andere Lebensmöglichkeiten und Wege wissen, desto stärker re-lativieren sich die eigenen Selbstverständlichkeiten. Nie mehr können wir uns ganz gewiss sein, denn es könnte ja auch alles ganz anders sein. So ist es verständlich, dass Menschen unter diesen Voraussetzungen der Versuchung fun¬damentalistischer Vereinfachung nicht immer widerstehen können.
Unter diesen Bedingungen heißt die Hauptaufgabe: Wählen ler¬nen. Sich zu entschei-den. Denn die Zukunft gehört denen, die begründet wählen und getroffene Entschei-dung auch durchhalten. Unter Vielfaltsbedingungen wird Wählen zur Lebensaufgabe und Wählen-können zur Bildungsfrage.
Wenn evangelische Bildungsarbeit die Bedingungen ernst nimmt, unter denen wir heu-te leben, dann wird sie helfen in der Unübersichtlichkeit Korridore der Orientierung zu schaffen, die nicht vorschreiben, aber Richtungen anbieten, Wegmarken zum gelin-genden Leben. Lebensbegleitende Bildung heißt dann, dem einzelnen zu helfen, gut, sinnhaft und situati¬onsgemäß zu leben. Das ist die Heilung, die heute von uns ausge-hen kann.
Liebe Schwestern und Brüder, Jesus zog umher in ganz Galiläa. Ab und zu hat er ge-predigt, gelehrt und geheilt. Jesus zog umher, und es folgte ihm eine große Menge. Darum zum Schluss eine Bemerkung zur Zweckfreiheit von Bildung. Sie ist nur mittel-bar nützlich. Sie erreicht den Menschen, wenn sie sich nicht funktionalisieren lässt.
Betrachtet man diese Aufgabe unter dem Gesichtspunkt des kirchlichen Vorteils, so wird unsere Beteiligung an der Bildungsaufgabe nicht zwingend die Institution Kirche stützen. Aber wir werden mündige Menschen fördern, die bereit sind, Verantwortung zu übernehmen und die in der Lage sind, zu wählen und zu wissen, was sie wollen. Wenn dieses gelingen würde, wäre eine wesentli¬che Aufgabe erfüllt, deren Erträge mit Ge-wiss¬heit der Kirche langfristig wieder zugute kommen werden.
Denn die vielfältigen Früchte der Bildung wachsen langsam, was sie brauchen ist Zeit, Geduld und gelassene Herzen.
AMEN

 

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