„Lobet den Herren, alle, die ihn ehren“
Predigt zu Paul Gerhardt
Dr. Rüdiger Sachau, Sonntag, 22. April 2007, 18.00 Uhr
St. Matthäus Kirche, Kulturforum Berlin
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Liebe Gemeinde,
„Lobet den Herren, alle die ihn ehren“ – dieses Lied des bekanntesten protestantischen Lie-derdichters und Theologen Paul Gerhardt ist heute Grundlage der Predigt. Wir haben bereits die erste Hälfte gesungen, vertont von Gerhardts Berliner Freund Johann Crüger, dem be-deutendsten Melodienschöpfer neben Luther. Ich lese die ersten fünf Strophen noch einmal vor, weil sie sich im Hören anders erschließen:
1. Lobet den Herren alle, die ihn ehren; lasst uns mit Freuden seinem Namen singen und Preis und Dank zu seinem Altar bringen. Lobet den Herren!
2. Der unser Leben, das er uns gegeben, in dieser Nacht so väterlich bedecket / und aus dem Schlaf uns fröhlich auferwecket: Lobet den Herren!
3. Dass unsre Sinnen / wir noch brauchen können / und Händ und Füße, Zung und Lip-pen regen, das haben wir zu danken seinem Segen. Lobet den Herren!
4. Dass Feuerflammen / uns nicht allzusammen / mit unsern Häusern unversehns gefres-sen, das macht's, dass wir in seinem Schoß gesessen. Lobet den Herren!
5. Dass Dieb und Räuber / unser Gut und Leiber / nicht angetast' und grausamlich verlet-zet, dawider hat sein Engel sich gesetzet. Lobet den Herren!
Liebe Gemeinde,
am Abend dieses Tages singen und bedenken wir ein Morgenlied. Das können wir auch ru-hig, denn was Paul Gerhardt uns sagen kann, geht in seiner Bedeutung über den Tagesbe-ginn hinaus. Der Blick wird uns geweitet nicht nur über den Tag, sondern über die Grenze des Lebens bis in das Jenseits. „Lobet den Herren“ ist eines der meist gesungenen Lieder aus dem evangelischen Gesangbuch, vielen von uns seit frühesten Tagen vertraut. Als mei-ne Kinder noch klein waren, fragte ich manchmal vor dem Frühstück: „Was wollen wir heute singen?“ Und dann kam immer wieder in schöner norddeutscher Kürze die begeistere Kin-derantwort: „Lobet’tern“.
„Lobet den Herren“, soll man darüber predigen oder wäre es nicht besser, es einfach zu tun? Denn beim Singen spricht dieses Lied mit unserem Herzen und unserer Seele. Und ist es nicht zu schön und vertraut, um es in einer Predigt zu zerreden? Das wollen wir nicht tun, aber für mich ist das Nachdenken über diesen vertrauten Liedtext von Paul Gerhardt zu einer geistlichen Entdeckungsreise geworden, an der ich Sie teilhaben lassen möchte.
1. Loben zieht nach oben und erzeugt Freude am Dasein
Jetzt im Frühling, besonders, wenn endlich einmal ein schöner Tag ist, dann geht uns das Loben leicht über die Lippen. Die schöne Jahreszeit ist wie ein Gotteslob selbst, ein Gleich-nis und eine wunderbare Erinnerung: wie schön ist das Leben, herrlich und voller Überra-schungen für den, der die Augen aufhält. Die ganze Natur, die Sonne, die grünenden Bäu-me, die blühenden Büsche, das frische Grün, alles lässt die Seele weit werden und die Freu-de sitzt tief in Herz und Gefühl.
Lobet den Herren, für Paul Gerhardt ist Gott nicht eine abstrakte Größe, sondern durch die Schöpfung, seiner Hände Werk, spricht er uns Menschen eindringlich und persönlich an. Das gilt sowohl für die Konstanten des Kosmos, Sonne, Mond und Sterne, als auch für die not-wendigen Dinge des Alltags, Wasser, Getreide, Most und Brot, Wind und Wetter, Wald und Weide.
„In der ganzen Natur finden wir die Initialen Gottes, und alle erschaffenen Lebewesen sind Liebesbriefe Gottes an uns.“ Diesem Wort von Ernesto Cardenal hätte Paul Gerhardt wohl zugestimmt und hinzugefügt, dass unser Lob die passende Antwort ist. Zugleich ist es so, dass sich erst im Loben die Spuren Gottes in der Welt entziffern.
Nehmen wir einmal einen Baum, eine Linde vor einem Gasthof in der Mark Brandenburg. Der Botaniker wird sagen, es ist eine Sommerlinde, lateinisch Tilia platyphyllos, Gattung der Rosengewächse, die kann sehr alt werden. Der Forstwirt wird sagen, Lindenholz ist nichts zum Bauen, aber zum Schnitzen und dient auch als Brennholz mit geringem Brennwert. Für den Gasthof zur Linde ist der Baum Namensgeber und Symbol. Diese Sichtweisen sind alle berechtigt, aber sie reichen mir nicht aus. Ich sehe und spüre: Was für ein schöner Baum! Das ist unbegründbar und unterliegt keinem Nutzen und ist doch wahr. Und dann liegen wir vielleicht auf der Bank, blinzeln durch das Blätterdach in den blauen Himmel und wissen: alles ist gut.
In solchen Momenten ist es leicht, auch an Gott zu glauben, zu vertrauen, dass das Gute über den Tag und sogar das Leben hinaus gilt. Lobet den Herren an guten Tagen und in guten Stunden. Wenn uns die Botschaft vom Gotteslob leicht über die Lippen geht, loben wir sozusagen auf Vorrat.
Und dazu gehört neben unserem Lied noch ein weiteres, paralleles, von Joachim Neander knapp dreißig Jahre nach Paul Gerhardt gedichtet: Lobet den Herren, den mächtigen König der Ehren. Wie oft habe ich dieses Lied bei besonderen Anlässen gesungen, bei Hochzeiten und großen Festen, wenn der Dank aus tiefster Seele strömt.
Wenn doch nur jeder Mensch ein paar solcher Erinnerungen in sich tragen würde. Wenn alle wüssten, wie gut es tun kann, einfach zu loben, sich am Leben zu freuen ohne Vorbehalt, wenn wir uns daran erinnerten an die Augenblicke, in denen wir die Stimmen der ständigen kritischen Überwachung zurück stellen konnten!
Lobet den Herren, der aus dem Schlaf uns fröhlich auferwecket. Wer das mit Paul Gerhardt singt, muss noch gar nicht fröhlich sein, aber in dem ich es singe, werde ich an die Möglich-keit erinnert, diese guten und dankbaren Seiten in mir zuzulassen.
Das ist etwas anderes als die aus meiner Sicht platten Zumutungen des positiven Denkens, die immer etwas Selbstmanipulatives und Verzweifeltes haben. Wer mit Paul Gerhardt am Morgen oder wie wir am Abend „Lobet den Herren“ singt, muss damit nicht oberflächlich oder naiv werden sondern ist bereit, auch andere Stimmen als die des praktischen oder strategi-schen Kalküls zuzulassen.
Matthias Claudius, der Wandsbeker Bote und wahrlich ein kritischer Geist, der Paul Ger-hardts Texte gut kannte, hat dieses Lob so ausgedrückt:
Ich danke Gott und freue mich
Wie's Kind zur Weihnachtsgabe,
Daß ich bin, bin! Und daß ich dich,
Schön menschlich Antlitz! habe,
„Täglich zu singen“ hat Claudius dieses Lied überschrieben. Loben zieht nach oben, danken hebt den depressiven Blick und macht das Herz weit. Loben und danken verändert uns, denn dabei nehmen wir eine andere Haltung zum Leben ein
2. Loben gegen den Augenschein?
Nun ist es ja nicht so einfach mit der Welt, dass alles nur zu loben und zu preisen wäre. Das Leben ist kompliziert und hat Licht und Schatten dicht beieinander.
Während ich über meiner Predigt sitze, stört mich das laute Geschrei der Amsel, die vor meinem Fenster im Gestrüpp an der Garagenwand brütet. Aufgeregt springt das Männchen von Ast zu Ast, schreit und plustert sich auf. Im dichten Laub entdecke ich einen braunen Schatten, der sich dem Nest langsam nähert. Das Eichhörnchen hat es auf die Eier abgese-hen, auf denen das Weibchen angstvoll sich niederpresst. Was soll ich tun? Ich bringe das Eichhörnchen um seine leckere Mahlzeit, indem ich es verscheuche. Aber es bleibt ein am-bivalentes Gefühl. Morgen werde ich nicht zur Stelle sein, wird das Nest dann leer sein?
Das Leben ist wunderschön, es gibt mehr als tausend Gründe, Gott als Schöpfer und Geber des Lebens zu loben, und zugleich gilt, dass das Leben grausam, hart und manchmal unbe-greiflich ist. Wer einen scharfen Blick hat, wer die Wirklichkeit differenziert wahrnimmt, der sieht neben den hellen Farben die dunklen, neben allem Glück das Unglück, neben dem Lobgesang die Klage.
Warum ist in der schönsten Jahreszeit die Suizidrate am höchsten? Die „paradoxe Lebens-müdigkeit“ irritiert mich zutiefst. Warum werfen überhaupt Menschen ihr wunderbares Leben weg? Gab es nichts, was sie loben konnten, gab es keine Freude, die sie halten konnte? Diese und andere Anfechtung an das Lob Gottes will ich nicht verdrängen.
Und ich weiß, dass in diesem Augenblick andere Menschen im Irak und Afganistan, im Su-dan und Somalia, in Todeszellen und an ungezählen Folterorten um ihr Leben fürchten und es verlieren.
Während Millionen Touristen in das wunderschön wieder erstandene Berlin strömen, wir brauchen uns gedanklich nur mal eben um die Ecke an den Potsdamer Platz begeben, wäh-rend wir uns zu Recht an den Schönheiten dieser Stadt erfreuen, herrscht anderorts der Hunger, sterben Kinder an Krankheiten, die hier leicht zu bekämpfen wären.
Augenscheinlich kann man unter diesen Bedingungen Gott nicht loben. Oder doch?
Ich kehre zu Paul Gerhardt zurück, denn als er 1653 „Lobet den Herren, alle die ihn ehren“ verfasste, da gab es auch für ihn objektiv nicht viel zu loben.
Gerade vor einem Jahr war er Propst in Mittenwald geworden. Das Städtchen litt noch unter den Folgen des Krieges, sein Amtsvorgänger Propst Gallus war 1637 vor dem Altar von plündernden Schweden erschossen worden. Was für ein Bild stellt sich vor Augen, wenn man Gottesdienst an einem Ort des Mordes hält? Wie kann man Gott loben angesichts einer traumatisierten Gemeinde?
Ein Leben in Angst und ständiger Bedrohung war für Paul Gerhardt der Normalfall. 1618, als der 30 jährige Krieg begann, da war er grade elf Jahre. Und als dieser Krieg 1648 beendet wurde, da war er inzwischen 41. Die ganze Jugend, die besten Jahre hat er unter dem Schatten des auf und abbrandenden Krieges durchlebt.
Wenn Paul Gerhardt lobt, dann lobt er gegen den Augenschein, er lobt angesichts des Lei-des, das ihn zeitlebens umgeben hat.
Er hat die Leichenberge nach den Schlachten des 30 jährigen Krieges gesehen, den Jam-mer der Verwundeten und Verstümmelten gehört. Er war Seelsorger in den Zeiten der Pest, wo die Toten ohne Sang und Klang in Gruben vor der Stadt entsorgt wurden. Paul Gerhardt lobt Gott in einer Zeit der Angst und der Verrohung, schlimmer, als sie jeder kulturpessimisti-sche Kommentar unserer Zeit formulieren könnte.
Lobet den Herren, Paul Gerhardt geht es nicht um das leichte Lob. Gott ist nicht einfach der liebe Gott, den man so gerne haben muss. Wer mit 14 Jahren Vollwaise war, wer vier von fünf eigenen Kindern durch vorzeitigen Tod verliert, wem der heißgeliebte elterliche Hof und der ganze Heimatort in einer Nacht durch Feinde verbrannt wurde, und dann noch immer singt: Lobet den Herren, der hat einen anderen Gott vor Augen, als den lieben Gott, der ein-fach alles wieder gut macht.
Darum lautet die erste Zeile auch „Lobet den Herren, alle die ihn ehren“.
Hier ist die Spannung schon angedeutet, es ist ein Gott, der zu loben ist, aber auch zu ehren und zu fürchten. Nicht ein harmloser und lieber, sondern einer, der Respekt und Anerken-nung verlangt.
Wenn wir vor diesem Lebenshintergrund die eben gesungenen Strophen uns einmal an-schauen, dann ahnen wir, wie und wem Paul Gerhardt die Augen öffnen will.
„Dass Dieb und Räuber unser Gut und Leiber nicht angetast’ und grausamlich verletzet, da-wider hat sein Engel sich gesetzet. Lobet den Herren.“
Das dichtet einer, der die unfassliche Gewalt und Grausamkeit der christlichen Lands-knechtsheere kannte. Ein Irrsinn, der damals nicht anders war, als heute im Irak und an an-deren Orten, Willkür und Unberechenbarkeit bestimmten das Leben, der Tod stand bestän-dig vor Augen.
Wie kann man da Gott loben? Paul Gerhardt mutet sich und uns dieses zu, damit das Leben wieder gelingen kann, wendet er sich Gott zu. Ich frage mich, wie es den Christinnen und Christen in der Türkei an diesem Sonntag geht. Nach der Ermordung von drei Mitarbeitern eines christlichen Verlages am Mittwoch in Malatya, was werden sie heute in den Gottes-diensten singen, sagen und beten?
„Dass Feuerflammen uns nicht allzusammen mit unsern Häuser unversehens gefressen“, hier geht es nicht um den Notruf 112 und einen mehr oder weniger schnellen Feuerwehrein-satz, sondern um die Möglichkeit des totalen Untergangs, ohne jede Feuerversicherung. So wie Gräfenhainichen, die Geburtsstadt Paul Gerhardts in einer Nacht vollständig in Schutt und Asche niedersank, einschließlich seines geliebten Heimathauses, das die Eltern hinter-lassen hatten.
Man muss diesen Vers lesen mit dem Wissen um den Untergang der protestantischen Bür-gerstadt Madgeburg nach der Belagerung durch die kaiserlichen Truppen unter Tilly am 20. Mai 1631. Die Elbe rot vor Blut, Knäuel verkohlter Leichen in Bergen auf den Straßen - auf Flugblättern wurde die Untergangsnachricht innerhalb von Tagen auf dem ganzen europäi-schen Kontinent verbreitet. Ein Ereignis, dass für die damalige Welt genauso traumatisch war, wie der 11. September für das beginnenden 21. Jahrhundert. Was bleibt da noch zu loben?
Näher ist mir da die dritte Strophe: „Dass unsre Sinnen wir noch brauchen können und Händ und Füße, Zung und Lippen regen, das haben wir zu danken seinem Segen. Lobet den Her-ren.“ Ja, das kennen und fürchten wir vielleicht genauso wie die Menschen damals: den In-farkt oder Schlaganfall in der Nacht. Ich denke an Patienten im Wachkoma mit deren Ange-hörigen wir gerade in der Evangelischen Akademie getagt haben. Ich denke an das Locked-in-Syndrom, bei vollem Bewusstsein eingeschlossen in den eigenen Körper, alles mitbe-kommend und nicht in der Lage sind, zu kommunizieren. Ja, je älter ich werde, desto mehr weiß ich es zu schätzen, wenn ich morgens gesund aus dem Bett steigen kann.
Aber Paul Gerhardt hatte wohl noch mehr im Sinn, er hat die schwarze Pest mehrfach erlebt, zuerst mit 19 Jahren im Internat, in der Fürstenschule zu Grimma.
Wenn keiner mehr sich regt, sondern ganze Landstriche durch die Pest entvölkert wurden, so wie durch AIDS heute in Teilen Afrikas, dann gelangen wir über die individuelle Besorgnis in ganz andere Dimensionen. In Berlin stand 1643 jedes dritte Haus leer. Das alles steht Paul Gerhardt vor Augen, als er uns auffordert, mit ihm zu singen „Lobet den Herren“. Woher nimmt er dazu die Kraft?
3. Gott loben in guten und in schweren Stunden - drei Spuren auf der Suche nach Paul Gerhardts Geheimnis
(1) Die Spannung zwischen Realität und Glaube aushalten
Das Leben ist schön und leicht zu loben, das Leben ist grausam und nicht zu loben. Paul Gerhardt hat die Ambivalenz des Lebens nicht einseitig aufgelöst und ist weder in Zweckop-timismus noch Miesmacherei verfallen.
Als ein Freund des Lebens ist er Realist. Er weiß, dass man auch in schlimmen Zeiten Gott nicht aus dem Spiel lassen kann. Und er weigert sich, die Schrecken zu rationalisieren, sei es indem er sie ohne Gott oder nur mit Gott erklärt.
Ich glaube, dass die besten und stärksten Aussagen der Theologie solcher Art sind, dass sie eine Spannung ertragen und sich nicht einseitig lösen: Jesus, wahrer Mensch und wahrer Gott, Gott eins und dreifaltig, … Der Verstand kommt an die Grenzen und will die eine oder die andere Lösung und würde dabei das ganze verlieren.
Lobet den Herren, alle die ihn ehren – vielleicht singen wir zukünftig diese Strophen in dem Bewusstsein, dass sie eben keine einfache Antwort geben wollen. Das ist es, was mich je-denfalls beeindruckt und ermutigt.
Paul Gerhardt hat es sich nicht einfach gemacht, das macht es für uns einfacher, selber von ihm zu lernen Daraus erklärt sich seine bis heute gültige Wirksamkeit
Und noch eines, er liebt diese Welt, trotz, ja in all ihren Schrecken, die er erfahren hat und die unendlich weit weg sind von allem, was ich bisher erleben musste. Paul Gerhardt verfällt nicht in die Gefahr jener protestantischen Miesmacherei, die uns vor allem erst einmal sagt, wie schlimm es um uns steht. Er blendet die Realität nicht aus, aber er glaubt der wunderba-ren Schöpfung Gottes, auch gegen den Augenschein. Viele Prediger machen die Welt erst schlecht, um dann auf der Seite Gottes stehend gut und groß herauszukommen. Das macht Paul Gerhardt nicht und darum sind seine Lieder, obwohl teilweise in Sprache und Theologie veraltet, immer noch so wirkmächtig und eindrücklich – selbst für moderne Menschen. Bei ihm bleiben Lebenslust und Gottesliebe versöhnte Geschwister.
(2) Auf Vorrat loben - sich Worte leihen lassen
Es ist ein überraschendes tiefes religiöses Urvertrauen, das ihm auch im Angesicht des Lei-des Kraft und Zuversicht gibt. In der Spannung von Gutem und Schlechtem entscheidet er sich, dem Guten seine Aufmerksamkeit zu schenken.
Er lenkt den eigenen und meinen Blick weg vom Abgrund in die Höhe. So wird der Horizont weit, die Seele ruht sich aus, der Geist wird frei. Die Lust zum Singen kommt oft erst, wenn und indem man singt. Man muss es tun und diese Erfahrung verinnerlichen. Denn auf Vorrat in guten Zeiten loben, auf diese Erfahrung kann er in der Not zurückgreifen.
Denn ich glaube, dass Gerhardt gezweifelt und gehadert hat, wie wir alle zweifeln und ha-dern, wenn es bitter wird. Es gibt Verse von ihm, geschrieben anlässlich des Todes seines ersten Kindes, da ahnen wir, wie viel Leid er erfahren hat.
Und er leiht sich Sprache und Kraft, wo die eigene nicht mehr reicht.
Unser Lied, „Lobet den Herren“, nimmt den biblischen Psalm 103 zur Vorlage, wir haben ihn in diesem Gottesdienst im Wechsel gebetet. Ich stelle mir vor, wie Paul Gerhardt in schwe-ren Zeiten in der Bibel oder Gesangbuch geblättert hat. Wie er, der sprachmächtige Dichter, sich hat trösten lassen mit den Worten der Väter und Mütter im Glauben. So, wie wir heute auf den Schatz seiner Texte zurückgreifen dürfen.
(3) Vom Loben zum Handeln
Paul Gerhardt lässt uns in den ersten fünf Strophen Anteil nehmen an der Freude über erfah-rene Bewahrung. In den folgenden fünf geht es ihm um den Schutz und Segen für den neu-en Tag.
1. O treuer Hüter, Brunnen aller Güter, ach lass doch ferner über unser Leben / bei Tag und Nacht dein Hut und Güte schweben. Lobet den Herren!
2. Gib, dass wir heute, Herr, durch dein Geleite / auf unsern Wegen unverhindert gehen / und überall in deiner Gnade stehen. Lobet den Herren!
3. Treib unsern Willen, dein Wort zu erfüllen; / hilf uns gehorsam wirken deine Werke; / und wo wir schwach sind, da gib du uns Stärke. / Lobet den Herren!
4. Richt unsre Herzen, dass wir ja nicht scherzen / mit deinen Strafen, sondern fromm zu werden / vor deiner Zukunft uns bemühn auf Erden. Lobet den Herren!
5. Herr, du wirst kommen / und all deine Frommen, die sich bekehren, gnädig dahin bringen, da alle Engel ewig, ewig singen: Lobet den Herren!
Nun geht es um unser Handeln. Erst indem wir nach Gottes Willen leben, bekommt das Got-teslob seine Dignität. Das Tun besiegelt und bestätigt die Wahrhaftigkeit des Gotteslobes, das sollten wir nicht vergessen.
Wer das begreift, steht in einem Horizont, der über dieses vergängliche Leben und über die-se Welt weit hinausreicht. Die Erde mit ihrer unglaublichen und doch begrenzten Schönheit ist nur die Vorstufe der himmlischen Herrlichkeit, das glaubt Paul Gerhardt fest.
Amen
http://www.eaberlin.de/Lobet_den_Herrn.pdf
Erschienen am 11.02.2014
Aktualisiert am 04.04.2014