Vom Saulus zum Paulus oder: Wem die Barmherzigkeit schlägt
Sommerpredigt in Paretz
Dr. Rüdiger Sachau: Predigt am 3. Sonntag nach Trinitatis, 20. Juni 2010, Dorfkirche Paretz
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1. Ausstieg aus dem Extremismus: Vom Saulus zum Paulus
Liebe Gemeinde,
„Vom Saulus zum Paulus“ heißt es sprichwörtlich, wenn einer oder eine seine Meinungen und Haltungen um 180 Grad gewandelt hat – und zwar zum Guten. Gibt es das wirklich?
Vor zwei Jahren lernte ich einen ehemaligen muslimischen Fundamentalisten kennen. Das war auf einer deutsch-ägyptischen Tagung. Die Gäste aus Ägypten waren in der Mehrzahl evangelische Christen. Männer und Frauen einer Minderheit, die ständig unter Druck gesetzt, benachteiligt, ja sogar verfolgt wird. Sie hatten ihn, der weiterhin ein sehr frommer Muslim war, zu uns mitgebracht. Sie waren davon überzeugt, dass er dem Terror und der Gewalt abgesagt hat und dass es gut sei, miteinander freundschaftlich und vertrauensvoll zu sprechen.
Mich hat diese Begegnung sehr beeindruckt.
Wie kommt es, dass Menschen zu neuen Einsichten kommen, sich dem Lebensdienlichen wieder zuwenden, und zwar ohne Rücksicht auf eigene Vorteile oder Nachteile?
Darum können hier nicht die Wendehälse und Mitläufer gemeint sein, die gab es schon immer. Nicht nur 1989 nach dem Zusammenbruch der DDR, die gab es auch 1945 nach dem Ende der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und zwar im Westen und Osten Deutschlands.
Ich meine Menschen, die aus eigener Kraft, und bevor es sowieso alles klar vor Augen steht einsehen: Ich bin auf dem falschen Weg, wir sind auf dem falschen Weg. Und die auch umkehren.
Es hat solche gegeben, während der Nazi-Diktatur, unter Einsatz ihres Lebens. In der DDR unter Inkaufnahme schwerer Nachteile, von Karriereverlust und sogar Gefängnis.
Vom Saulus zum Paulus. Da mögen Vernunft und Einsicht eine Rolle gespielt haben, persönliche Begegnungen und Gespräche.
Aber wenn einer so richtig verbohrt ist, dann ist das sehr schwer und sehr selten, dass er sich wandelt.
Kennen Sie EXIT-Deutschland? Das ist ein Verein, der heute Personen hilft, aus der rechtsextremen Szene auszusteigen.
EXIT hilft Nazis vom Saulus zum Paulus zu werden. Es sind nicht viele die aussteigen, aber die den Schritt geschafft haben, engagieren sich oft, um junge Menschen vor dieser Verblendung zu bewahren.
Vom Saulus zum Paulus – was muss geschehen?
Fragen wir Paulus selbst, er hat in einem Brief an seinen jüngeren Kollegen Timotheus darüber geschrieben, das ist die Epistellesung dieses Sonntags und zugleich unser Predigttext (1. Tim. 1, 12-17):
„12 Ich danke unserm Herrn Christus Jesus, der mich stark gemacht und für treu erachtet hat und in das Amt eingesetzt,
13 mich, der ich früher ein Lästerer und ein Verfolger und ein Frevler war;“
In der Apostelgeschichte kann man es nachlesen, was mit diesen Briefzeilen angedeutet wird. Der junge Saulus war ein Eiferer. Er wollte sich profilieren und unnachgiebiger als alle anderen die christliche Gemeinde in Jerusalem verfolgen.
Als der Diakon Stefanus gesteinigt wurde, wirkte Saulus als der offizielle Zeuge. Saulus wollte harte Maßnahmen, so berichtet die Apostelgeschichte. Er war so eifrig, dass er sich Genehmigungen erbat, auch gegen die Christen in Damaskus vorgehen zu dürfen.
Saulus war ein Fundamentalist, der hundertprozentig von der Richtigkeit seiner Ansichten überzeugt war. Es ging ihm um Gott, wie allen religiösen Fanatikern. Er sah das Gesetz Gottes durch die Anhänger des Jesus aus Nazareth infrage gestellt. Das durfte nach seiner Überzeugung nicht sein. Darum verfolgte er alle Christen fanatisch und gnadenlos.
Nein, das war kein Ruhmesblatt und Paulus scheut sich auch nicht, das ganz klar bekennen. Die Bezeichnungen, die er sich gibt, sind wahrhaftig nicht rühmlich: Lästerer, Verfolger, Frevler...
Was aber war dann geschehen?
Paulus schreibt weiter in seinem Brief an Timotheus:
„aber mir ist Barmherzigkeit widerfahren, denn ich habe es unwissend getan, im Unglauben.
14 Es ist aber desto reicher geworden die Gnade unseres Herrn samt dem Glauben und der Liebe, die in Christus Jesus ist.
15 Das ist gewisslich wahr und ein Wort, des Glaubens wert, dass Christus Jesus in die Welt gekommen ist, die Sünder selig zu machen, unter denen ich der erste bin.
16 Aber darum ist mir Barmherzigkeit widerfahren, dass Christus Jesus an mir als Erstem alle Geduld erweise, zum Vorbild denen, die an ihn glauben sollten zum ewigen Leben.
17 Aber Gott, dem ewigen König, dem Unvergänglichen und Unsichtbaren, der allein Gott ist, sei Ehre und Preis in Ewigkeit! Amen.“
2. Gewendet durch Barmherzigkeit
Nein, ein Wendehals ist Paulus nicht. Denn Wendehälse achten auf ihren eigenen Vorteil, den sie sich von der neuen Position erhoffen. Paulus war gewendet worden.
In seiner Raserei gegen die Christen, in seinem blinden Fanatismus, in seinem gnadenlosen Fundamentalismus, war Saulus gegen eine Wand gefahren. Er hatte eine Erfahrung gemacht, auf die er nicht vorbereitet war: die Barmherzigkeit Gottes.
Gott selber hatte Saulus die Verdrehtheit seiner Auffassungen vor Augen geführt, der musste die Verkehrung seiner Überzeugungen einsehen.
Und in dem Augenblick, da er sehen musste, dass er alles falsch gemacht hatte, erfuhr er Gottes Barmherzigkeit.
Diese Gnade hat sein ganzes weiteres Leben und Denken bestimmt. So wurde aus Saulus, dem Christenverfolger, Paulus, der Anhänger und Zeuge Jesu Christi.
Nicht er hat sich grundlegend verändert, er war verändert worden. „Mir ist Barmherzigkeit widerfahren“, so drückt er es aus.
Das griechische Wort eleéo heißt soviel wie Mitleid haben, und hier passiv bei Paulus Mitleid erfahren. Eleison, kyrie eleison – singen wir jeden Sonntag in der Liturgie. Das heißt: Herr erbarme dich, Gott habe Mitleid! Denken wir in Zukunft ruhig dabei auch an Saulus, der zum Paulus wurde.
Aber diese Erfahrung, Gott erbarmt sich, ist barmherzig, diese Erfahrung sollen auch wir machen: Im Kleinen wie im Großen.
Das ist die Grunderfahrung des christlichen Glaubens: Das Wichtigste ist schon passiert, Gott hat sich erbarmt, Gott hat Mitleid.
Und derjenige, der das zuerst auf den Punkt gebracht hat, das ist Paulus, der eigentlich Saulus hieß. Denn sogar mit ihm hatte Gott Erbarmen, mit ihm dem Verfolger, dem Lästerer und Frevler.
Erbarmen, das besagt nach dem Deutsches Wörterbuch der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm „ursprünglich in die arme fassen, auf den schosz nehmen“.
Dieses schöne Bild lässt uns bemerken, dass es um etwas geht, das wir uns nicht selber geben können. Man kann sich nicht selber auf den Schoß nehmen oder umarmen.
Denn das Beste im Leben wird uns geschenkt – wir merken es nur oft nicht.
Wie weit wir von dieser Erfahrung entfernt sind, fällt mir auf, wenn jemand sagt: Ich entschuldige mich. Das geht nämlich gar nicht. Man kann seine Schuld nicht einfach wieder ablegen. Sie kann mir nur von einem anderen abgenommen werden. Ich bin auf Vergebung, Güte und Barmherzigkeit angewiesen. Ich kann nur um Entschuldigung bitten. Sie kann mir gewährt oder verweigert werden.
Die gute Botschaft der Christinnen und Christen ist: Gott will meine Entschuldung, weil er barmherzig ist.
Diese Barmherzigkeit, die Saulus zum Paulus werden ließ, drückt nach den Brüdern Grimm eine „innere rührung und bewegung im busen und herzen aus“.
Darum heißt es Barmherzigkeit.
Dass Gott barmherzig sei, sagen nicht nur Paulus und die Christen, das sagen Juden seit alttestamentlichen Zeiten, z.B. beim Totengebet, das sagen auch Muslime, die aus dem Koran die 1. Sure zitieren.
Das macht die Lage nicht einfacher, aber diese Einsicht bewahrt uns davor, zu Fundamentalisten der Barmherzigkeit zu werden, und gewissermaßen die schönste aller Eigenheiten Gottes als unseren Besitz zu betrachten.
Denken Sie beispielsweise an die Inquisition, wenn Andersgläubige verbrannt wurden, um ihre Seelen zu retten, dann war und ist das eine Perversion.
Wir erinnern in diesen Tagen an die 38 Brandenburger Juden, die aufgrund des Diebstahls zwei Hostien durch einen Christen aus der Kirche Knobloch hier bei Ketzin, in Berlin vor der Marienkirche im Jahr 1510 verbrannt wurden.
Gottes Barmherzigkeit will sich nicht durch Macht, sondern durch liebevolle Nähe zeigen, das Leben Jesus führt das uns vor Augen und so soll es auch bei uns sein.
3. Wenn die Welt zum Stillstand kommt
Jemand, der sich erbarmt, sieht die Not seines Nächsten. Er geht nicht vorüber, sondern die Not des anderen spricht ihn an und er wendet sich dem Armen zu und hilft ihm. Jesus Christus hat sich immer den Schwachen und Kranken seiner Zeit zugewandt. Er blieb bei dem Hilfsbedürftigen stehen und sah ihn an - so beginnen viele Heilungsgeschichten.
Dieses Stehenbleiben und Ansehen ist der erste Schritt zum Erbarmen. Aber unser tägliches Leben ist anders. Wir fühlen uns gezwungen, schnell mitzuhalten, denn die nächste Bahn oder der nächste Bus fahren pünktlich ab. In unserem Zeitplan ist dieser Augenblick des Innehaltens nicht mehr vorgesehen. Hektik bestimmt das Leben. Das gilt sicher in stärkerem Umfang für das Leben in der Stadt, aber es hat längst unser aller Leben erreicht, wir alle leben immer schneller.
Oft sitzen bettelnde Menschen an meinen Weg, oder ich werde in der S-Bahn um einen „kleine Spende“ gebeten. Innehalten ist der erste Schritt zum Erbarmen. Ich bemühe mich, den Menschen ins Gesicht zu sehen, auch, wenn ich ihnen nicht immer etwas gebe. Das ist schwer, aber ehrlich. Ich sehe dich, du bist ein Mensch wie ich.
Vielleicht sehen wir auch vor lauter Hektik nicht mehr die Bedürfnisse unseres Partners oder der Partnerin, oder die Probleme in der Familie. So viel geschieht, weil wir immer voran laufen und nicht stehen bleiben.
Ich war früher genauso, schreibt Paulus an Timotheus. Aber Jesus Christus bringt diesen Raser zum Stillstand. Er tritt ihm in einem Licht entgegen und wirft ihn im wahrsten Sinne des Wortes aus der Bahn, vom Pferd. Saulus sah ein Licht und stürzte zu Boden wird uns in der Apostelgeschichte geschildert (Apg. 9, Vers 4 ff).
Wer nicht lernt, innezuhalten, den wirft das Leben irgendwann zu Boden. Wenn wir immer weiter rennen und in Hektik leben, brennen wir aus oder werden krank. Plötzlich streikt der Körper und will nicht mehr. Das Herz versagt, die Ohren dröhnen und Schwindel wirft zu Boden, ein Unfall lässt von jetzt auf gleich alles anders werden. Von einem Augenblick zum anderen sieht dann alles ganz anders aus. Ich habe diese Erfahrung selber machen müssen.
Wohl dem, der dann die Stimme hört: "Warum tust du das? Was treibt dich an?"
"Saul, Saul, warum verfolgst du mich?", Saulus vernahm die Worte Jesu und wurde zum Paulus. Innehalten und Nachdenken, das ist wichtig, das steht immer am Anfang eines neuen Weges. Die Bibel nennt das Buße. Sie beginnt mit dem Innehalten, der Unterbrechung, mit dem anderen Blick, auf uns selbst und auf andere. Sie beginnt hier an einem Sonntag, dem Tag der heilsamen Unterbrechung. Für uns beginnt sie heute in der Kirche von Paretz, dem Ort, an den sich Friedrich der Dritte und Luise immer wieder zurückzogen, um Abstand vom Hof und inneren Frieden zu finden.
4. Kirche – Raum der Veränderung
Ich möchte Ihnen heute zum Schluss einen kleinen Abschnitt aus einer Autobiographie vorlesen, die mich angerührt hat. Es ist eine Geschichte von Barmherzigkeit in einem ganz anderen Kontext. Sie spielt in Chicago in einer schwarzen Gemeinde, der Chor singt ein Lied:
„Die Kühnheit der Hoffnung! Ich erinnere mich noch gut an das Lied, das meine Großmutter sang.“ – „Die Kühnheit der Hoffnung! In Zeiten, in denen wir die Miete nicht bezahlen konnten. In Zeiten, in denen es so aussah, als würde ich es nie zu etwas bringen …, mit fünfzehn verhaftet wegen Autodiebstahl, und doch sangen Momma und Daddy: Thank you, Jesus. Thank you, Jesus…. A mighty long way.” Danke Jesus, ein langer Weg heim.
„Das hab ich nicht verstanden, dieses Lied. Warum haben sie ihm gedankt für ihre Sorgen und Nöte? Aber ich habe nur die horizontale Dimension ihres Lebens gesehen. Ich habe nicht verstanden, dass sie von der vertikalen Dimension sprachen. Sie haben von ihrer Beziehung zu Gott gesprochen! Ich habe nicht verstanden, dass sie ihm schon im Voraus dankten für alles, was sie für mich erhofften. „Herr, ich danke dir, dass du mich nicht aufgegeben hast, als ich dich aufgab! Jesus, ich danke dir …“
Der Chor stimmte wieder seinen Gesang an, die Gemeinde applaudierte all jenen, die nun zum Altar schritten, um dem Aufruf des Reverend Folge zu leisten. Ich spürte eine leise Berührung auf meinem Kopf und bemerkte dann, dass der ältere Junge [neben] mir mit besorgtem Gesichtsausdruck ein Taschentuch reichte. Seine Mutter sah mich lächelnd an, bevor sie sich wieder dem Altar zuwandte. Erst als ich mich bei dem Jungen bedankte, merkte ich, dass mir Tränen über die Wange liefen. „O Jesus“, flüsterte die alte Frau neben mir, „ich danke dir, dass wir diesen weiten Weg gehen durften.“
Der diese Geschichte erzählt ist Barack Obama in seinem Buch „Ein amerikanischer Traum“
Ich möchte diesen Traum heute mit Ihnen teilen Das Öffnen der Augen, die Erfahrung, dass uns Barmherzigkeit widerfahren kann. Hier, im Raum der Kirche, dürfte ich ein anderer werden.
Ich darf vom Saulus zum Paulus werden, und das jeden Tag neu.
Amen.
Erschienen am 11.02.2014
Aktualisiert am 04.04.2014