Arbeit am „blinden Fleck“
Wiederaufnahme der Ermittlungen zum Oktoberfestanschlag von 1980
Am 23. November zeigte die Evangelische Akademie im Kino Babylon den Film „Der blinde Fleck – Täter, Attentäter, Einzeltäter?“. Nur wenige Tage später verkündete der Generalbundesanwalt, dass der nunmehr vierte Wiederaufnahmeantrag des Opferanwaltes Werner Dietrich Erfolg hatte: „Wir werden allen Ansatzpunkten erneut und umfassend nachgehen.“
Die Glückwünsche für das Erreichen einer so prompten Reaktion der Ermittlungsbehörden musste die Akademie leider zurückweisen: Allein der unglaubliche Durchhaltewillen einiger Opfer des Anschlags, des schon genannten Anwaltes und des investigativen Journalisten Ulrich Chaussy hatten zu dieser lange überfälligen Entscheidung des Bundesanwaltes geführt.
Der Film indes spielte bei der Wiederaufnahme des Verfahrens sehr wohl eine Rolle: Nachdem er in den Kinos und später im Fernsehen gezeigt worden war, meldeten sich neue und alte Zeugen. Eine Zeugin hatte am Tag nach dem Oktoberfestattentat im Schrank eines Neonazis Waffen und gedruckte Nachrufe auf Gundolf Köhler entdeckt. Zu diesem Zeitpunkt war Köhlers Name noch nicht veröffentlicht gewesen. Die Zeugin wandte sich an die Polizei und wurde damals abgewiesen. Sie ist eine von zahlreichen Personen, deren Aussagen die Festlegung der Ermittlungsbehörden auf die Einzeltäterschaft von Gundolf Köhler für das schwerste Attentat in der Bundesrepublik seit 1945 massiv in Zweifel ziehen.
Worum geht es? Am 26. September 1980 tötete ein Sprengsatz am Haupteingang des Oktoberfestes in München 13 Menschen; 211 Erwachsene und Kinder wurden zum Teil lebensgefährlich verletzt. Für das bayerische Landeskriminalamt und den damaligen Generalbundesanwalt galt der beim Attentat ebenfalls getötete Bombenleger Gundolf Köhler schon nach wenigen Tagen als Einzeltäter – trotz seiner engen Verbindungen zur neonazistischen „Wehrsportgruppe Hoffmann“ und trotz zahlreicher Indizien und Zeugenaussagen, die auf weitere Beteiligte an hindeuten. Der Film „Der blinde Fleck“ (mit Benno Fürmann, Nicolette Krebitz, Heiner Lauterbach u.a.) zeichnet die Recherchen des Journalisten Ulrich Chaussy nach und wirft die offenen Fragen nach Verantwortlichen und Drahtziehern auf - deren Beantwortung die Angehörigen der Toten und die Verletzten seit mehr als drei Jahrzehnten einfordern.
Der damalige Generalbundesanwalt Günter Rebmann hatte die Ermittlungen nach möglichen Drahtziehern und Mittätern des 21-jährigen Studenten Gundolf Köhler nur zwei Jahre nach dem Attentat im November 1982 eingestellt, mit der Begründung, ein Anfangsverdacht auf Beteiligung mehrerer Täter habe sich nicht erhärten lassen. 1997 wurden dann alle Asservate zum Anschlag bei den Ermittlungsbehörden vernichtet. Eine am Tatort gefundene Hand, die nicht zum Täter gehörte, aber auch sonst keinem Opfer zugeschrieben werden konnte, verschwand. Sie hätte wohl einen Hinweis auf mindestens einen weiteren Täter geben können. Die so genannten Ermittlungspannen ähneln in mancher Hinsicht denen bei den Ermittlungen der NSU-Morde. Das Motto, dass nicht sein kann, was nicht sein darf, war wohl oft genug Leitmotiv der Ermittlungen.
Nach der Filmvorführung am 23. November sprach ich mit Ulrich Chaussy und Dr. Gerhart Baum. Baum war zum Zeitpunkt des Oktoberfestattentats Bundesinnenminister; im Rahmen der Akademie-Diskussion sprach er erstmals öffentlich mit Ulrich Chaussy über dessen Recherchen und den Film. Wenige Monate vor dem verheerenden Anschlag hatte Baum die neonazistische „Wehrsportgruppe Hoffmann“ verbieten lassen. Es wurde sehr deutlich, mit welchen Widerständen die Durchsetzung dieses Verbots verbunden gewesen war. Rechtsextremer Terrorismus war trotz deutlicher Hinweise keine von der Gesellschaft und den damaligen Oppositionsparteien wahrgenommene Wirklichkeit. Diese Haltung hat Nachwirkungen bis in die heutigen NSU-Ermittlungen, die Gerhart Baum mit sichtbarer Fassungslosigkeit kommentierte.
Es bleibt zu hoffen, dass 34 Jahre nach dem Anschlag auf das Oktoberfest noch Hinweise zu finden sind, wer diesen Anschlag geplant und durchgeführt hat - und warum die Ermittlungsbehörden die Hinweise auf rechtsextremen Terror so schnell außer Acht ließen.
Dr. Christian Staffa
Erschienen am 29.01.2015
Aktualisiert am 29.01.2015