Zwischen Resilienz und Transformation
Nachbericht „Die Ehe – Leitbild im Wandel, Leitbild in der Auflösung?“
„Familie hat jeder“ und: „Es ändert sich etwas“ – im weiten Feld zwischen diesen beiden Sätzen spielte sich die XXIV. Werner-Reihlen-Vorlesung am 17. und 18. November im interdisziplinären Austausch von theologischer Ethik, Literaturwissenschaft, Soziologie und praktischer Theologie ab.
„Familie hat jeder“ – unter diesem – nur auf den ersten Blick defätistischen – Motto stand der Eröffnungsvortrag von Dr. Petra Bahr, Leiterin der Hauptabteilung Politik und Beratung bei der Konrad-Adenauer-Stiftung. Eine „Ausweitung des Bildausschnittes“ regte Frau Bahr an, und lud dazu ein, die familienpolitische Debatte für neue Bilder von Elternschaft, Großelternschaft, von Kindheit und von Wahlverwandtschaft zu öffnen. Freilich bringe die neue Freiheit zum Knüpfen von Beziehungsnetzen auch Belastungen mit sich. Wie hoch es aber bleibend zu schätzen sei, dass der Zwangscharakter von Familie und Ehe zugunsten einer größeren Wahlfreiheit abgeschafft ist, führte dann Prof. Dr. Thomas Anz, Professor emeritus für Neuere deutsche Literatur an der Universität Marburg, vor Augen. Das Leiden am „Zwangscharakter“ von Familie spiele in der literarischen Moderne eine große Rolle. Doch sei zugestanden: Das Unglück interessiere die Literatur mehr als das Glück; der Verfall einer Familie sei „interessanter“ zu erzählen als ihr Blühen. Sollte aber die neue „Wahlfreiheit“, von der Petra Bahr sprach, ein später Sieg nach einem – auch literarisch geführten – langen Kampf gegen den Zwangscharakter von Familie und Ehe darstellen?
Als die „golden age of marriage” werden die 1950er und 1960er Jahre bezeichnet. Doch ist dieses Verständnis möglicherweise infrage zu stellen, wenn man Prof. Dr. Isolde Karle, Professorin für Praktische Theologie, Homiletik, Liturgik und Poimenik an der Universität Bochum, folgt. Denn sie hielt als eine höchst positive Errungenschaft fest: „Wer heute heiratet, tut dies freiwillig und intrinsisch motiviert, nicht wegen äußerer Erwartungen.“ Die Ehe, so Frau Karle, sei eine zutiefst „lernfähige Institution“, die auch für die Zukunft wichtig bleibe – sofern sie sich der Herausforderung durch die die Entdeckung, dass „Geschlecht“ eine sozial konstruierte Größe ist, stelle.
Nach den pointiert normativ gehaltenen Ausführungen von Frau Karle sprach Prof. Dr. Kai-Olaf Maiwald, Professor für Mikrosoziologie und qualitative Methoden an der Universität Osnabrück und Mitglied des Kollegiums des Instituts für Sozialforschung an der Universität Frankfurt am Main, aus einer dezidiert analytischen Perspektive und problematisierte die Orientierungskraft von „Leitbildern“. Er vertrat die Position, dass Paare und Familien heute vor der Aufgabe stünden, aus einer Vielzahl aus Deutungsmustern für die Paarbeziehung und die Familie auszuwählen und teils widerstreitende Aspekte zu einem sinnvollen, lebensdienlichen Ganzen zu verschmelzen. Freilich sei doch bei allem Wandel eine Grundkonstante bei familialen Beziehungen und bei Paarbeziehungen (auch bei serieller Monogamie) zu beobachten: die „Unkündbarkeit des Personals“. Die Beteiligten eines Paares und einer Familie seien eben nicht austauschbar, sondern in ihrer unveräußerlichen Individualität Teil dieses Paares, Teil ihrer Familie.
Und schließlich: „Es ändert sich etwas!“ – dieser Satz stammt von der römisch-katholischen Ethikerin Prof. Dr. Elke Mack, Professorin für Christliche Sozialwissenschaften und Sozialethik an der Universität Erfurt. Sie stellte unter dem Titel: „Nicht die Form entscheidet“ ihren Ansatz einer theologischen Beziehungsethik dar und nahm dafür positiv Bezug auf die Kriterien gelingender Partnerschaft aus dem Familienpapier der EKD aus dem Jahr 2013.
Befindet sich die Ehe als ethisches und gesellschaftliches Leitbild nun in Auflösung, oder befindet sie sich in einer Übergangsphase zu einer neuen Gestalt? Am Ende der XXIV. Werner-Reihlen-Vorlesung wird man sagen können: Die Ehe erweist sich als resilient – so sehr das theologisch-ethische Verständnis der Ehe offensichtlich inmitten eines tiefen Transformationsprozesses steht. Doch da es sich bei der Ehe um ein „weltlich Ding“ handelt, empfiehlt sich ein gelassener Umgang damit. Ein Prestigeverlust der bürgerlichen Ehe läutet nicht etwa das Ende von Familie oder Partnerschaft ein; und dem Bedürfnis nach Verbindlichkeit im familiären Zusammenleben ist „etwas wie die Ehe“ nicht fremd.
Seit 1994 findet die Werner-Reihlen-Vorlesung statt. Unter der Schirmherrschaft des Präsidenten der Humboldt-Universität hat diese Stiftungsveranstaltung den Auftrag, das Gespräch der Theologie mit anderen Wissenschaften unter ethischen Gesichtspunkten zu fördern. Die Vorlesung bildete in diesem Jahr eine Kooperation der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin (Prof. Dr. Notger Slenczka) mit der Evangelischen Akademie zu Berlin (PD Dr. Eva Harasta). Weitere Informationen unter https://www.theologie.hu-berlin.de/de/st/reihlen
PD Dr. Eva Harasta
Erschienen am 25.11.2015
Aktualisiert am 25.11.2015