"Gemeinschaftliches Denken in der EU fehlt"
Nachlese zum Flüchtlingsschutzsymposium
Dass sich die EU-Mitgliedstaaten schwer tun, offensichtlich schutzbedürftige Flüchtlinge aufzunehmen, „ist eigentlich unfassbar“, sagte Hans ten Feld, der Vertreter des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) in Deutschland. In seinem Vortrag beim 15. Berliner Flüchtlingsschutzsymposium am 22. Juni verwies er auf die „Faktenlage“: Nur eine Minderheit von Schutzsuchenden wage die Flucht über Grenzen und Kontinente hinweg. Die meisten Flüchtlinge weltweit blieben in der Region, aus der sie kommen. Auch Christoph Strässer, der Beauftragte der Bundesregierung für Menschenrechtspolitik und Humanitäre Hilfe, betonte, es sei ein Vorurteil anzunehmen, die Europäische Union würde derzeit von einer Flüchtlingswelle überschwemmt. „Die allermeisten Fluchtbewegungen gehen von Süd nach Süd, nicht von Süd nach Nord“.
Beispielhaft nannten Strässer und ten Feld die Aufnahmebereitschaft der Türkei und des Libanon. Der Libanon habe 1,2 oder sogar 1,4 Millionen Flüchtlinge aufgenommen, das entspreche fast einem Viertel der libanesischen Bevölkerung, so der Menschenrechtsbeauftragte. Übertrage man diese Zahlen auf Deutschland müssten hier rund 20 Millionen Menschen aufgenommen werden.
In Europa gehe die organisierte Aufnahme von Schutzsuchenden dagegen nur langsam voran, beklagte Hans ten Feld. „Und wenn man genauer hinschaut, sind es nur wenige Staaten in Europa, die sich überhaupt an der Aufnahme substanziell beteiligen, allen voran Deutschland.“ Zwar hätten die EU-Richtlinien und –Verordnungen das internationale Flüchtlingsrecht in elementaren Bereichen vorangebracht. Die Defizite des gemeinsamen europäischen Asylsystems seien jedoch unübersehbar, unterstrich der UNHCR-Vertreter. „Was augenscheinlich fehlt, ist gemeinschaftliches Denken.“ Das Pilotprojekt zur Umverteilung von 40.000 Flüchtlingen aus Griechenland und Italien innerhalb der EU und das gemeinsame EU-Resettlementprogramm, mit dem 20.000 Menschen Aufnahme gewährt werden soll, sei aus Sicht des UNHCR zu begrüßen. Dennoch müssten mehr legale Wege geschaffen werden, um Schutzbedürftigen eine sichere Zukunft zu bieten. Ten Feld verwies in diesem Zusammenhang auf die Notwendigkeit einer flexibleren Visapolitik und einer erweiterten Familienzusammenführung.
Der Menschenrechtsbeauftragte Strässer sprach sich für eine europaweite gegenseitige Anerkennung der positiven Entscheidung eines anderen Mitgliedsstaates über einen Asylantrag aus. Während Rückkehrentscheidungen in allen Mitgliedstaaten gelten würden, entfalte die Anerkennung als Flüchtling nur in dem zuständigen Mitgliedstaat eine Wirkung. Das Dublin-System erklärte er für „gescheitert“. Er hält eine zeitweise Aussetzung bis zur Evaluation des Systems für sinnvoll. Angesichts der derzeitigen Flüchtlingszahlen wundere er sich über die „Diskussion um Quoten“, so der Beauftragte weiter. Die derzeit geführte Diskussion über die Quotenregelung zur Verteilung von Schutzsuchenden in Europa sei nicht sinnvoll und führt seiner Ansicht nach „zu einem Prozess der Desintegration“. Er sprach sich dafür aus, Flüchtlinge, deren Aufnahme „klar ist“, nach einem Wunschland für die Aufnahme zu befragen. Zäune, so der Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, verstießen gegen europäische Werte und Rechte.
Den gesamten Vortrag von Hans ten Feld lesen Sie hier (PDF-Dokument, 142.3 KB).
Erschienen am 25.06.2015
Aktualisiert am 25.06.2015