Nachwirkungen der Reformation nehmen nicht ab
SWR2-Gespräch mit Professor Paul Nolte
„Mensch Luther, was hast du uns da eingebrockt?“ fragt sich Akademiepräsident Paul Nolte bisweilen im Blick auf das durch den Reformator wesentlich geprägte deutsche Arbeitsethos. Im SWR2-Forum „Sparsam, fleißig und bescheiden. Wie viel Luther steckt in Deutschland?“ am 22. Juli mahnte der Historiker, die „Überzogenheit der Ansprüche“, die die Arbeitshaltung vieler Bürgerinnen und Bürger kennzeichne, auch kritisch zu betrachten. Diesbezüglich sei das protestantische ein „zwiespältiges Erbe“.
Den ausschließlichen Rückbezug auf Martin Luther in diesem Zusammenhang möchte Paul Nolte hinterfragen: „Bündeln wir da nicht viel zu viel auf eine Figur, die sich im Moment auch medial sehr im Blick auf das Reformationsjubiläum als eine persönliche Projektionsfläche eignet?“ Eine strenge, asketische Haltung sei doch vielmehr Johannes Calvin zuzuschreiben, „während Luther auch ein Genussmensch gewesen ist“. Außerdem plädierte der Akademiepräsident dafür, bei der Suche nach Ursachen für die deutsche Einstellung zur Arbeit den Blick zu weiten. „Der Übereifer beim Arbeiten hat auch Ursachen, für die man vielleicht gar nicht so weit in die Geschichte zurückgehen muss“, sagte er hinsichtlich der Übersteigerung des Arbeitsethos im Nationalsozialismus. „Man könnte auch sagen: Ach was Luther – das haben uns unsere Großeltern und Urgroßeltern aus der Zeit vom Nationalsozialismus in das Wirtschaftswunder hinein eingeimpft, und das sind wir noch nicht los“.
Deutliche Einflüsse des Protestantischen erkennt Paul Nolte auch in der Politik. Dies zeige sich insbesondere in der Anschauung von Politik unter ethischen und moralischen Gesichtspunkten. „Der ganze deutsche Akzent auf Umweltpolitik, die Energiewende, eine besondere Bearbeitung der Ernährungsfrage und was da moralisch legitim ist – da kommen für mich ganz starke protestantische Grundzüge zum Vorschein.“ Immer wieder wird es Zeiten geben, in denen sich die Nachwirkungen der Reformation verstärkt zeigen werden, ist der Historiker überzeugt. „Nach meinem Eindruck hat sich dieser protestantische Zug in der politischen Kultur der Bundesrepublik auch infolge der Wiedervereinigung 1989/90 tatsächlich wieder verstärkt“.
Die Deutschen haben Paul Nolte zufolge insgesamt „ein Faible dafür, Religion und Politik zusammen zu denken“. Religion sei in diesem Zusammenhang als eine „Kompensation der potenziell korrupten und uns zwischen 1933 und 1945 auch sehr stark korrumpiert habenden Politik“ zu sehen. Es sei daher kein Zufall, dass bei der Suche nach einem Nachfolger für Bundespräsident Gauck eine Persönlichkeit wie Navid Kermani so hoch gehandelt würde.
Einen grundlegenden Umbruch im politischen und sozialen Bild der evangelischen Kirche, insbesondere in der Grundhaltung zur Demokratie, hat es erst im 20 Jahrhundert gegeben, so Nolte weiter. Heute werde die gesellschaftliche Ordnung wesentlich durch den christlich inspirierten Sozialimpuls getragen. Die Wandlungsfähigkeit vom obrigkeitsstaatlichen konservativen, „wenn nicht sogar nationalsozialistisch affizierten“ Protestantismus hin zum Protestantismus als Stütze und Beförderer der Demokratie zeige in bemerkenswerter Weise dessen die Offenheit und Anschlussfähigkeit – dies, betonte Paul Nolte, „ist auf einer übergeordneten Ebene das besonders Beeindruckende“.
Das gesamte Gespräch der Sendung „Sparsam, fleißig und bescheiden. Wie viel Luther steckt in Deutschland?“ mit Prof. Paul Nolte, der Autorin Dr. Christine Eichel und dem Journalisten und Vorsitzenden der Internationalen Martin Luther Stiftung, Dr. Michael J. Inacker unter der Moderation von Maria Ossowski können Sie hier hören.
Erschienen am 27.07.2016
Aktualisiert am 27.07.2016