Demokratie im Zeitalter des Populismus
Vortrag von Norbert Lammert
Gemeinsam wollen evangelische und katholische Kirche ein Wort zur Demokratie abgeben. Das Abendforum „Zwischen Polarisierung und Konsens. Wie steht es um unsere Demokratie?“ am 22. März war der Start dieses Arbeitsprozesses, zu dem rund 500 Besucherinnen und Besucher in die Französische Friedrichstadtkirche kamen. In seinem Eingangsvortrag „Demokratie im Zeitalter des Populismus“ entwickelte Bundestagspräsident Norbert Lammert fünf Themen, von denen er sich wünscht, dass sie Berücksichtigung finden.
Erstens: Wer vertritt das Volk? Populistische Gruppierungen reklamieren für sich, Repräsentanten des Volkswillens zu sein. Der Volkswille ist aber keine verfügbare Größe, sagt der Bundestagspräsident. In seinem Vortrag unterstrich Lammert, dass der Begriff „Volk“ in rechtlicher und statistischer Hinsicht womöglich noch ermittelbar, der Volkswille aber eine sich ständig verändernde, „allenfalls ‚ambulante‘“ Größe sei.
Zweitens: Der Präsident des Bundestages machte auf den Versuch populistischer Gruppen aufmerksam, „den Demokratiebegriff zu besetzen“. Demokratie sei aber gerade nicht ein Verfahren, bei dem Mehrheiten bestimmten, was getan werde, sondern ein System, in dem Minderheiten unter dem Protektorat des Rechtsstaats stünden, betonte er. Der Alleinvertretungsanspruch von populistischen Gruppierungen sei „ein Widerspruch der demokratischen Logik“. Erlaubt sei der Anspruch, bestimmte Interessen zu vertreten, nicht aber, die Wahrheit zu besitzen.
Drittens: Der Unionspolitiker unterstrich, dass sich jede liberale Gesellschaft durch Vielfalt und gegensätzliche Interessen auszeichne. Ein Konflikt sei damit gewissermaßen „ein gewollter Dauerzustand einer Gesellschaft“. Voraussetzung für die Konfliktfähigkeit einer Gesellschaft sei aber der „Konsens über die Bedingungen, unter denen Konflikte ausgetragen werden“, sagte er mit Verweis auf die Verfassung unseres Rechtsstaates, die die Möglichkeit der Einklagung von Rechten garantiert.
Viertens: Das Spannungsverhältnis zwischen „Bewahren“ und „Verändern“ erkennt Lammert in jeder Gesellschaft angelegt. Die Auseinandersetzung darüber, „was davon gerade ‚dran‘ ist“, sei eine unverzichtbare Quelle für die Lebendigkeit einer Gesellschaft. „Ich habe den Eindruck, dass es ein ausgeprägtes Merkmal populistischer Gruppierungen ist, von Veränderung wenig, vom Bewahren viel zu halten.“ Eine solche Haltung bezeichnete der Unionspolitiker als „wirklichkeitsfremd“. Dass es gesellschaftliche Veränderungen gebe, sei offenkundig. Gerade am Beispiel der Migration werde deutlich: „Die Option, alles so zu lassen, wie es ist, besteht gar nicht“. Die Gesellschaft müsse sich aber zu der Frage der Gestaltung von Veränderungen verhalten.
Fünftens: Lammert nahm außerdem Stellung zu der von populistischer Seite häufig vorgebrachten Forderung nach der Ersetzung parlamentarischer Prozesse durch Volksabstimmungen. Er stellte in Frage, ob solche Abstimmungen der authentischen Ermittlung des Volkswillens dienen. Vor dem Hintergrund der Beteiligung an Volksentscheiden hält er die Legitimation dieser Art der Entscheidungsfindung für „mindestens fragwürdig“. Lammert betonte auch die Bedeutung von Professionalität in diesem Zusammenhang. In vielen wichtigen Belangen – beispielhaft nannte er die Gewerkschaften, die Banken und den ADAC - würden sich die Bürgerinnen und Bürger von anderen vertreten lassen. „Aber was die Handelsbeziehungen zwischen der Europäischen Union und Nordamerika angeht, das entscheiden wir am besten selbst.“
Seiner Erfahrung nach seien parlamentarische Entscheidungen „selten genial, aber auch selten vollständig daneben“. Lange Diskussionsprozesse schlössen „völligen Unfug“ aus, während dieses Risiko bei Plebisziten strukturell größer sei. Auch die Frage nach der Korrektur einmal getroffener Entscheidungen stellte der Bundestagspräsident. Am Beispiel des Brexit machte er deutlich, dass der Aufwand für die Korrektur einer solchen Entscheidung immens ist. Nicht zuletzt wies Lammert auf die Verantwortung für politische Entscheidungen hin. Anders als bei Volksabstimmungen seien die Verantwortlichen bei parlamentarisch getroffenen Entscheidungen zu identifizieren.
Die Demokratie, so das abschließende Fazit Lammerts, sei eine fragile Staatsform. „Sie steht und fällt mit dem Engagement ihrer Bürgerinnen und Bürger“.
Erschienen am 23.03.2017
Aktualisiert am 23.03.2017