Interview Ulrich Körtner

„Klassische Funktion der Akademien fehlt“

Interview mit Ulrich Körtner

© Wikipedia / sekfeps (Reformationskongress 2013)

Kirchen sollten Orte bieten, an denen in anderer Weise über Themen diskutiert wird, als es sonst der Fall ist. Sagt Ulrich H.J. Körtner mit Blick auf die zunehmende Tendenz zur Moralisierung und Emotionalisierung der Politik. Der Wiener Theologieprofessor erinnert an „die klassische Funktion“ der Evangelischen Akademien, die er zurzeit „weniger“ wahrnimmt, heißt es in einem Interview mit dem Evangelischen Pressedienst epd.

„Etwas mehr Demut“ wünscht sich der Ordinarius für Systematische Theologie bei den Kirchen. Sie träten auf wie eine Art Lobbyinstitution und stünden in der Gefahr, ihre gesellschaftliche Stellung und ihre Rolle in der Politik zu überschätzen. Aufgabe der Kirche ist es Körtner zufolge, „etwas Grundlegendens zur politischen Kultur zu sagen und zu den Spielregeln einer modernen Demokratie und weniger zu der Frage, soll jetzt der Dieselmotor bis 2030 abgeschafft werden oder nicht?“ Lesen Sie hier das gesamte epd-Interview:

 

Wiener Theologe: Kirche und Politik müssen raus aus Echokammer

Ulrich Körtner beklagt Trend zu Moralisierung in der Gesellschaft

epd-Gespräch: Stephan Cezanne

Wien (epd). Der Wiener Theologieprofessor Ulrich H. J. Körtner warnt vor einer Gefährdung der Demokratie durch eine zunehmende Moralisierung in Politik und Kirche. Im laufenden deutschen Wahlkampf würden sehr komplizierte Sachverhalte auf sehr einfache Parolen reduziert, sagte der aus Westfalen stammende Ordinarius für Systematische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien dem Evangelischen Pressedienst (epd): "Oftmals wird das dann mit dem Gestus der moralischen Rechthaberei verbunden." Zudem würden die großen Kirchen ihre heutige Rolle in der Gesellschaft überschätzen.

epd: In Ihrem jüngsten Buch warnen Sie vor einer Gefährdung der Demokratie durch eine zunehmende Moralisierung - und Emotionalisierung - der Politik. Was meinen Sie damit?
Körtner: Ein Leben ohne Moral ist nicht vorstellbar. Moral unterscheidet ganz schlicht gesprochen zwischen Gut und Böse oder Gut und Schlecht. Eine rigide Moral unterscheidet zwischen Schwarz und Weiß, da gibt es wenig Zwischentöne, Grautöne, die ja das Leben ausmachen. Moralisierung aber bedeutet, dass alle möglichen Fragen des Lebens moralisch aufgeladen werden. Moralisierung ist ein Missbrauch von Moral, etwa für politische Zwecke.
epd: Können Sie ein Beispiel nennen?
Körtner: Die Auseinandersetzung um den Dieselmotor etwa, da gibt es auf eine sehr zwiespältige Weise eine Verquickung von Sachargumenten und moralischer Entrüstung. Auf der einen Seite gibt es das Fehlverhalten von Managern in deutschen Autounternehmen. Auf der anderen Seite gibt es Umweltorganisationen, die Unternehmen und Städte mit Prozessen überziehen. Sie fühlen sich dabei als Gralshüter und Wächter des Umweltschutzes. Eine Hysterie ähnlich wie nach Fukushima hat eingesetzt. Dabei wird das Kind mit dem Bade ausgeschüttet, denn bei Umweltbilanzen steht der Dieselmotor Experten zufolge gar nicht so schlecht da. Jetzt scheint sich das Ganze wieder auf eine scheinbar einfache Frage zu reduzieren: Bist du für oder gegen Umweltschutz? Wer einen Diesel fährt, gehört dann zu den bösen, den schlechten Menschen.
epd: Viele Menschen verlangen nach einfachen Lösungen...
Körtner: Ja, denn unsere Welt ist sehr komplex geworden, auch politische Sachverhalte sind enorm schwierig. Aber nicht nur im laufenden Wahlkampf werden Probleme auf sehr einfache Parolen reduziert. Oftmals wird das dann mit dem Gestus der moralischen Rechthaberei verbunden. Das ist, glaube ich, letztendlich schädlich für eine globale Politik. Die Frage ist: Bis zu welchem Punkt sind solche Vereinfachungen von Komplexität noch tragbar?
epd: Wird diese Vereinfachung nicht durch die Medien gefördert, geradezu forciert?
Körtner: Gewiss. Zwar kann die Demokratie nicht ohne die Massenmedien funktionieren, die Sachverhalte in die Öffentlichkeit bringen. Nur so kann eine Meinungsbildung stattfinden, die auch im Wahlverhalten zu Entscheidungen führt. Aber der Talkshow-Betrieb zum Beispiel folgt im Grunde einer Dramaturgie. Diese setzt darauf, dass bestimmte Rollen mit einem Wanderzirkus von "Darstellern" besetzt werden, die durch die verschiedenen Sender touren. Da gibt es etwa die Rolle des konservativen CDU-Politikers oder die der wirtschaftskritischen Linken-Politikerin. Es geht in einer solchen Sendung ja selten um einen wirklichen Erkenntnisgewinn, sondern eher darum, dass bestimmte Positionen möglichst knackig markiert werden.
epd: Sie meinen, die Politik wird zur reinen Unterhaltung?
Körtner: Ja, ähnlich wie ein wichtiges Fußballspiel kommentiert wird, werden auch Wahlauftritte kommentiert. Diese Sendungen müssen für das Publikum eben einen gewissen Unterhaltungswert haben. Wer hat da mehr geschwitzt? Wer ist mehr ins Stottern gekommen? Wer hat freundlicher oder miesepetriger in die Kamera geschaut? Da sind wir beim Thema Emotionalisierung. Es geht eben weniger darum, was hat einer inhaltlich gesagt, als mehr darum, wie er jetzt über den Äther kommt. Bestimmte Politikertypen, wie es sie vor Jahrzehnten gab, hätten wohl heute keine Chance mehr, politisch wirken zu können, weil die den bestimmten medialen Erfordernissen nicht mehr gerecht werden.
epd: Können die Kirchen hier nicht als eine Art Schiedsrichter vermitteln?
Körtner: Die Kirchen selbst treten ja auf wie eine Art von Lobbyinstitution, etwa wie der ADAC. Wenn bestimmte Themen kommen, weiß man schon, was die Kirche dazu sagen wird. Oft wird der Eindruck erzeugt, in der Kirche hat man zu bestimmten Fragen immer eine klare Position. Dabei gibt es unter Christenmenschen nicht nur aus politischen Präferenzen, sondern auch aus religiösen Gründen unterschiedliche Zugänge zu Fragen und unterschiedliche Lösungsansätze.
epd: Sollen sich die Kirchen mehr in die Politik einmischen?
Körtner: Die Kirchen sind Akteure im öffentlichen Diskurs und sollten Orte bieten, an denen in anderer Weise über Themen diskutiert wird, als es sonst, zum Beispiel im Fernsehen oder im Parlament, gemacht wird. Das war die klassische Funktion der Evangelischen Akademien. Das nehme ich weniger war.
epd: Überschätzen die Kirchen ihre Rolle in der Gesellschaft?
Körtner: Die Verankerung der Kirche in der Gesellschaft würde ich für geringer einschätzen, als es von den Betroffenen selber manchmal gesehen wird. Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) etwa erhebt den Anspruch, eine staatstragende Funktion zu haben. Die Kirche steht tatsächlich in der Gefahr, ihre gesellschaftliche Stellung und damit ihre Rolle in der Politik zu überschätzen.
epd: Wie sollte die evangelische Kirche stattdessen agieren?
Körtner: Die Kirchen sollten sich gegen die Auswüchse einer politischen Unkultur zu Wort melden und nicht zu allen Sachfragen Stellung nehmen. Zudem bewegt sich die EKD im politischen Mainstream, mit einer bestimmten Affinität zum linksliberalen Flügel. Die Aufgabe der Kirche bestünde für mich darin, etwas Grundlegendes zur politischen Kultur zu sagen und zu den Spielregeln einer modernen Demokratie und weniger zu der Frage, soll jetzt der Dieselmotor bis 2030 abgeschafft werden oder nicht? Etwas Demut würde der Kirche gut anstehen.
epd: Nun könnte man fragen, warum soll die Kirche nicht Lobby der Armen oder sozial Schwachen sein?
Körtner: Wenn sich die Kirche zivilgesellschaftlich an politischer Meinungsbildung beteiligt und zur Schärfung der Gewissen führen will, dann ja. Wenn es aber den Unterton hat, ohne Kirche und ohne Christentum ist kein Staat zu machen, dann halte ich das für fragwürdig. Da unterliegt die Führung der EKD inzwischen einer Selbsttäuschung. Wir haben nach wie vor Politiker, die bewusst und bekennend Mitglieder einer Kirche sind, katholisch oder evangelisch, und den Kirchen noch eine Rolle in der Gesellschaft einräumen. Ein Beispiel dafür ist der deutsche Bundespräsident und bekennende Protestant Frank-Walter Steinmeier. In der Gesamtgesellschaft jedoch, auch in den jüngeren Politikergenerationen, ist das so überhaupt nicht mehr selbstverständlich vorauszusetzen. Da haben wir es in West- und Ostdeutschland mit einer erheblichen Entkirchlichung zu tun.
epd: Viele Politiker befinden sich aus Ihrer Sicht in einer Filterblase oder Echokammer, das heißt, sie suchen stets nach einer Bestätigung ihrer eigenen Überzeugungen und blicken selten über ihren eigenen Tellerrand. Trifft das auch auf die Kirchen zu?
Körtner: Allerdings, ich habe oft den Eindruck, dass man sich an der EKD-Spitze in einer Echokammer bewegt. Das heißt, man bestärkt sich eigentlich immer wieder gegenseitig und hat dann eine bestimmte Wahrnehmung von Wirklichkeit, die durch diese Filterblase eben doch sehr stark geprägt ist. Die, die dieses Establishment repräsentieren, verlieren zudem ein bisschen aus dem Blick, wer eigentlich sonst auch noch mit zur Kirche gehört. Nehmen Sie das 500. Reformationsjubiläum: Was die Wirksamkeit der Jubiläumsaktivitäten betrifft und dem, was in der Öffentlichkeit tatsächlich aufgenommen wird, das scheint doch auseinanderzufallen - vor allem was die Besucherzahlen angeht. Da habe ich wenige nachdenkliche oder selbstkritische Äußerungen gehört. Das muss sicherlich noch aufgearbeitet werden.

epd-Nachrichten vom 29. August 2017

Das aktuelle Buch „Für die Vernunft. Wider Moralisierung und Emotionalisierung in Politik und Kirche" von Ulrich Körtner ist erschienen in der Evangelischen Verlagsanstalt Leipzig.

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