Politische Bildung mit Geflüchteten
Nachlese
Die Signale aus der Politik sind widersprüchlich: Integration wird gefordert, doch Sicherheiten für Geflüchtete gibt es kaum. Wie sollen sich junge Menschen mit Fluchtgeschichte politisch bilden, wenn sie von Abschiebung bedroht sind oder mühsam ihren Alltag organisieren müssen? Dieses grundlegende Dilemma wurde in der Fachtagung „Zugänge zur Zielgruppe. Politische Bildung mit Geflüchteten“ am 18. September 2017 deutlich. Mit der Veranstaltung fand die erste trägerübergreifende Fortbildung für die Anbieter politischer Bildung im Projekt „Empowered by Democracy“ des Bundesausschusses politische Bildung (bap e.V.) statt.
„Nicht wenige der jugendlichen Geflüchteten sind mit großen existentiellen Sorgen belastet: oft droht die Abschiebung, häufig gibt es Angehörige, die in Kriegsgebieten leben und auf Unterstützung warten. Die Wohnverhältnisse sind beengt, der Zugang zu Schule und Ausbildung ist schwierig. Viele haben außerdem mit den Nachwirkungen traumatischer Erlebnisse zu kämpfen“, nennt Studienleiterin Dr. Claudia Schäfer Gründe dafür, dass politische Bildung für diese Gruppe viele Herausforderungen birgt. Und sie fragt weiter: „Wie können wir Menschen- und Grundrechte überhaupt an eine Gruppe vermitteln, für die viele dieser Rechte hier nicht gelten?“ Zur Sprache kamen diese Grundprobleme gleich zu Beginn der Tagung beim Erfahrungsaustausch auf dem Podium mit Vertretern der im Themenfeld bundesweit führenden Europäischen Jugendbildungs- und Begegnungsstätte Weimar und der KIgA – Politische Bildung in der Migrationsgesellschaft, Berlin. Beide Einrichtungen sind in der Ausbildung von jungen Menschen mit Fluchtgeschichte zu Multiplikator*innen der politischen Bildung aktiv, ein Ziel, das auch das Projekt „Empowered by Democracy“ verfolgt.
Einig waren sich die Podiumsgäste darin, dass Geflüchtete für die Teilnahme an Veranstaltungen zur politischen Bildung vor allem durch persönliche Kontakte und individuelle Beziehungsarbeit gewonnen werden können. Angesichts der prekären Alltagssituation der Jugendlichen sei es von zentraler Bedeutung, sie in persönlichen Gesprächen immer wieder zu ermutigen. Werbung sei durch Patenschaftsinitiativen und über die Leiter*innen von Sprachkursen möglich, ebenso in Unterkünften, über einschlägige Facebookgruppen oder spezielle Medien für Geflüchtete. Informationsveranstaltungen seien erst als letzter Schritt sinnvoll.
Motive zur Teilnahme an Angeboten der politischen Bildung gibt es für Geflüchtete viele: Wer an diesen Angeboten teilnimmt, fasst besser Fuß in der deutschen Gesellschaft, kann gleichzeitig anderen Ankommenden helfen und eventuell eigene Berufsperspektiven entdecken. „Auch eigene Fragen wie: Wer bin ich hier? Wie reagiere ich auf Nachfragen zur Situation in meinem Heimatland? Was ist mein Verhältnis zum Islam? Welche Rolle spielt Religion in der deutschen Gesellschaft? können auf diesem Weg geklärt werden“, sagt Claudia Schäfer. Hervorgehoben wurde bei der Podiumsdiskussion auch die Möglichkeit, im Kontext der Angebote zur politischen Bildung eigene Rassismus- und Diskriminierungserfahrungen zu teilen.
Grundlegend für alle diese Angebote ist es nach der Erfahrung der Teilnehmer*innen der Fachtagung, niedrigschwellig zu erklären, was politische Bildung eigentlich bedeutet. Eine Teilnehmerin sprach sich dafür aus, dabei nicht Unterschiede, sondern Gemeinsamkeiten mit den jeweiligen Herkunftsgesellschaften zu identifizieren. Diskutiert wurden außerdem Methoden, um Sprachbarrieren abzubauen, und passende gemeinsame Aktivitäten in homogenen wie heterogenen Gruppen. In diesem Zusammenhang habe sich beispielsweise ein Besuch der Gedenkstätte Buchenwald mit Geflüchteten als eindrücklich erwiesen. „Da der Holocaust in der Schulausbildung vieler arabischer Staaten keine Rolle spielt, hat das Wissen um die deutsche Geschichte in dieser Gruppe sehr dazu beigetragen, Deutschland und das Konzept politischer Bildung besser zu verstehen“, so Studienleiterin Schäfer. Auch die Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde konnte viele Anknüpfungspunkte zu eigenem Erleben schaffen, ist dort doch die Geschichte von Deutschen zu sehen, die geflüchtet sind. Gerade die Bilder aus Turnhallen und von Demonstrationen bei der friedlichen Revolution haben sich als sehr anschlussfähig und diskussionsfördernd erwiesen. Eric Wrasse, Leiter der Europäischen Jugendbildungs- und Begegnungsstätte Weimar, hat diese Erfahrungen mit Gruppen gemacht und möchte daher ausdrücklich Mut machen zu historisch-politischen Bildungsansätzen.
Im Anschluss an die Podiumsdiskussion fanden vier Workshops statt. Dort wurden rechtliche Rahmenbedingungen für Angebote politischer Bildung beleuchtet, der Umgang mit Traumatisierungen thematisiert, die Möglichkeiten politischer Teilhabe von Geflüchteten kritisch hinterfragt und genderspezifische Haltungen und Lösungen bei der Arbeit mit jungen Geflüchteten erarbeitet.
Das Programm der Tagung finden Sie hier.
Das Netzwerkprojekt „Empowered by Democracy" der GEMINI-Träger im Projekt „Demokratie leben" fordert die Anbieter politischer Bildung heraus, junge Menschen mit Fluchtgeschichte mit ganz unterschiedlichen Angeboten politischer Bildung zu erreichen. Mehr dazu unter www.politische-jugendbildung-et.de/projekt/empowered-by-democracy/
Erschienen am 04.10.2017
Aktualisiert am 05.10.2017