"Die Welt wird uneindeutiger"
Interview mit Paul Nolte
Wir leben in „einer ganz neuen Geschichte, für die wir noch keinen Namen haben“, sagt Paul Nolte. Ob Europäisierung und Globalisierung wieder an Kraft gewinnen oder ob sich die Regression zum Nationalstaat verfestigt: „Wir wissen nicht, wohin es geht“, so der Historiker im Gespräch mit der Berliner Zeitung über die deutsche Geschichtsschreibung. Begriffe wie postmodern, postdemokratisch und postliberal seien lediglich „Nachklänge an Vergangenes“. Eine neue Orientierung fehle.
Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es personell und institutionell zunächst eine starke Kontinuität in der deutschen Geschichtsschreibung, unterstreicht der Präsident der Evangelischen Akademie. Mitte der 50er Jahre habe man sich von der reinen Nationalgeschichte entfernt und versucht, „Deutschland einzubetten in einen europäischen, ja weltgeschichtlichen Kontext“.
Die Analyse der deutschen Geschichte und der Schuldfrage nach dem Zweiten Weltkrieg litt für Nolte darunter, dass viele Wissenschaftler sie als traumatisch empfunden hätten. Beleuchtet habe man überwiegend die kollektiven Verfehlungen, nicht die persönlichen. So wenig in der Psychoanalyse die eigenen Seelenverwundungen analysiert worden seien, „so wenig wurden die Taten damals untersucht. Es gab eine diffuse Schuld. Ausschwitz war eine Chiffre“.
„Große Nationalgeschichten“ erkennt der Professor für Neuere Geschichte an der Freien Universität Berlin erst wieder in den 80er Jahren. „Das war aber eher eine Art Trauerarbeit. Denn die Nation schien erst einmal ganz vergangen“. In dem nach dem Ende der Teilung Deutschlands von Heinrich August Winkler verfassten Werk „Der lange Weg nach Westen“ aus dem Jahr 2000 sieht Paul Nolte „beinahe eine Erlösungsgeschichte in einem paratheologischen Sinn“.
Die Orientierungslosigkeit im Blick auf den derzeitigen Lauf der Geschichte führt er darauf zurück, dass die Welt „uneindeutiger“ werde: „Die binäre Ordnung löst sich auf: Mann oder Frau? Demokratie oder Diktatur? Fortschritt oder Rückschritt? Wir wissen es nicht mehr.“ Dieser Ausbruch aus der Eindeutigkeit kann Paul Nolte zufolge befreiend wirken, aber auch verunsichernd. „Das ist eine große Herausforderung des 21. Jahrhunderts“.
Das Interview mit Präsident Paul Nolte finden Sie hier (PDF-Dokument, 371.1 KB).
Erschienen am 07.01.2019
Aktualisiert am 11.01.2019