Meilenstein und Enttäuschung
Studienleiter zur „Stuttgarter Schulderklärung“
Die „Stuttgarter Schulderklärung“ vor 75 Jahren war ein Meilenstein, meint Christian Staffa, doch habe „jedes Bekenntnis zum Versagen der Evangelischen Kirche im Nationalsozialismus“ gefehlt. Der dpa sagte er, warum die Erklärung ein Schritt nach vorn war und gleichzeitig Schuld verdrängte.
Meilenstein und Enttäuschung - 75 Jahre «Stuttgarter Schulderklärung»
Von Martin Oversohl, dpa
Es war ein erster Versuch nach den Schrecken des Weltkriegs. Die evangelische Kirche wollte sich öffnen. Zumindest Teile davon und wenigstens ein bisschen. Die «Stuttgarter Erklärung», ein erstes Schuldbekenntnis, ist deshalb auch nach 75 Jahren umstritten.
Stuttgart (dpa/lsw) - Ein Neuanfang sollte es werden nach den Jahren des Krieges. Ein erster Schritt für die Kirche heraus aus den Trümmern, die die Bomben und braunen Parolen der Nationalsozialisten auch im Gewissen der Kirche hinterlassen hatten. «Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden», heißt es selbstbezichtigend in dem Bekenntnis, das protestantische Bischöfe und Kirchenpräsidenten wenige Monate nach der Kapitulation unterzeichneten.
Erstmals hinterfragten sie die eigene Rolle in der Nazizeit, zum ersten Mal gestanden sie damit auch zögerlich ihr Versagen im Dritten Reich ein. Ein Schritt nach vorne zwar, zunächst waren es aber auch zwei zurück: Denn die Protestanten ernteten einen Sturm der Entrüstung, sogar in den eigenen Reihen.
Das Papier, das am 19. Oktober 1945 als «Stuttgarter Schulderklärung» in die Kirchengeschichte einging, hatten Mitglieder des Rats der neu gegründeten Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) verfasst, die damals noch EKiD hieß. Hans Christian Asmussen war dabei, Otto Dibelius und Martin Niemöller auch. Zu den Unterzeichnern gehörte auch der spätere Bundespräsident Gustav Heinemann.
Als Ratsmitglieder standen sie damals unter Druck. Nur zwei Monate vor der Unterzeichnung war es dem württembergischen Landesbischof Theophil Wurm in Treysa gelungen, die deutschen evangelischen Kirchen zur EKD zu vereinigen. An deren Oktober-Sitzung nahmen auch Kirchenvertreter aus Ländern teil, gegen die die Deutschen kurz zuvor noch ins Feld gezogen waren. Diese Abgesandten des noch im Aufbau befindlichen Ökumenischen Rats der Kirchen (ÖRK) wollten zwar Beziehungen zu den evangelischen Kirchen knüpfen. Aber es brauchte eine Gegenleistung: der deutsche Protestantismus musste zunächst ein deutliches Zeichen abgeben, das er seine Mitverantwortung für die NS-Verbrechen eingesteht.
Im Ausland hatten die Unterzeichner der Erklärung den Erfolg, den sie sich erhofft hatten: Der Kompromiss habe dem deutschen Protestantismus nach dem Zweiten Weltkrieg das Tor zur weltweiten ökumenischen Zusammenarbeit geöffnet, zeigt sich der Landesbischof der Evangelischen Landeskirche in Württemberg, Frank Otfried July, überzeugt.
In Deutschland dagegen stieß die Erklärung auf Ablehnung von gleich mehreren Seiten. Bei den einen durch das, was nicht gesagt wurde: der Massenmord an den Juden, der Holocaust, blieb im Wortlaut ebenso unerwähnt wie der Antisemitismus und die Verstrickungen mit dem Regime. Fragen warfen bei anderen auch die Formulierungen auf, die so klangen, als sei die Kirche durchaus mutig und brennend gewesen - nur eben nicht genug. Und waren das die Worte und Bekenntnisse allein der Unterzeichner, der Kirche oder sogar des ganzen deutschen Volkes?
Aber auch die meisten evangelischen Landeskirchen und zahlreiche Kreissynoden gingen angesichts der Wäschekörbe voller Protestbriefe aus den Gemeinden auf Distanz. Denn die Debatte über die Schuldfrage traf die meisten Christen unvorbereitet. Sie fühlten sich so kurz nach Kriegsende für Verbrechen in Mithaftung genommen, obgleich sie nach eigener Wahrnehmung eher Opfer waren als Täter.
«Von Flensburg bis Lindau warfen erregte Briefschreiber ihnen Verrat an Volk und Vaterland vor, feigen Opportunismus gegenüber den Siegermächten und die ebenso würdelose wie unverantwortliche Unterstützung der These einer deutschen Kollektivschuld», fasste der verstorbene Kirchenhistoriker Martin Greschat später zusammen. Und auch die Unterzeichner wollten mehr und waren enttäuscht: «Unser Volk hat uns diese Erklärung nicht abgenommen», schrieb Heinemann 1950. Martin Niemöller verließ ebenfalls der Mut, als er 1947 schrieb: «Ich habe zwei Jahre nichts anderes getan, als den Menschen diese Schulderklärung zu predigen. Leider ohne Erfolg.»
War die Erklärung also kein Erfolg? Jain, sagt Christian Staffa von der Evangelischen Akademie zu Berlin. Die Erklärung sei zwar gescheitert im Versuch, einzustehen für die Schuld der deutschen Protestanten in den Jahren des Weltkriegs und der Nazi-Diktatur. «Aber zugleich hat sie das Thema in einer selbstmitleidigen Zeit erst in die Debatte gebracht, sie hat eine kleine Schneise geschlagen, die Reflexion ermöglicht hat.» Außerdem habe die Kirche ihre «Wächterfunktion» im politischen Raum wiederentdeckt.
Stephan Linck, Historiker der Nordkirche, bezeichnet das Schuldbekenntnis zwar als «in vielem unzureichend», fügt aber hinzu: «Es war ein wichtiger Meilenstein auf einem langen Weg, den die Kirche noch vor sich hatte. Und es war dem Bewusstsein der deutschen Bevölkerung und der deutschen evangelischen Kirche um Jahre voraus.» Die Dimension des Kernsatzes sei bis heute nicht in das Bewusstsein von Politik und Gesellschaft eingedrungen, wie Debatten über Wiedergutmachungsfragen immer wieder zeigten.
Erschienen am 19.10.2020
Aktualisiert am 22.10.2020