Dekolonialisierender Denkprozess in Europa
09.12.2020 | ADVENT 2020 | Alica Johanna Saathoff
Die Kultur- und Literaturwissenschaftlerin Aleida Assmann hebt in ihrem Werk Der europäische Traum. Vier Lehren aus der Geschichte hervor, dass die Auseinandersetzung mit der kolonialen Geschichte eine Voraussetzung für die selbstkritische Positionierung und Verortung in der heutigen Zeit sei. Durch die sich immer weiter verzweigende Globalisierung sei es ein Muss, sich für Europa in der Welt auch durch die Auseinandersetzung mit der Geschichte zu verorten, um nicht gänzlich Glaubwürdigkeit zu verlieren. Durch eine gemeinsame Arbeit der europäischen Staaten mit ihren ehemals kolonisierten Ländern könnten die gewaltvollen Beziehungen erhellt und aufgearbeitet werden. Obgleich Europa seine Binnenbeziehungen aussöhnte, sei der Frieden solange unbeständig, bis nicht eine Verantwortung in der globalisierten Welt inklusive Vergangenheitsbewältigung übernommen werde. Europäer seien dazu in der Lage, aus ihrer Geschichte durch eine dialogische Erinnerung und einer Würdigung des Welterbes zu lernen.
Dieser Dialog muss vorerst angestoßen werden, um überhaupt Handlungen zu initiieren und eine Anerkennungspraxis in einer pluralen Gesellschaft zu etablieren. Im Zuge dessen steht jede*r Einzelne*r in der Pflicht darüber zu reflektieren, inwiefern man in (un-)bewusst sozialisierten, internalisierten und privilegierten Positionen verharrt, nach Erkenntnis darüber versucht, sich davon zu lösen und aktiv gegen soziale und diskriminierende Ungleichbehandlungen vorgeht. Eine Herausforderung ist dies sicherlich, weil sich Europa und jedes (privilegierte) Individuum einer Schuld stellen müssen, deren Bewältigung ein Umdenken konstituiert: die Dekolonisation des Denkens und Handelns. Die deutsche sowie europäische Kolonialgeschichte können demnach nicht als abgeschlossene Themen angesehen werden. Im Sinne des Postkolonialismus gilt die Frage, was es bedeutet, eine deutsche und darüber hinaus europäische Geschichte postkolonial zu schreiben. Dabei muss die Aufarbeitungskultur Europas über die Frage der Rückgabe kolonialer Raubgüter, über Straßenumbenennungen und einen Versöhnungsversuch im Blick auf begangene Völkermorde hinausgehen, hin zu einer auf die Zukunft gerichteten Frage. Diese Frage muss sich explizit damit auseinandersetzen, wie man als Gesellschaft das Leben auf dem einen Planeten, auf dem wir als Menschheit leben, gemeinsam und gleichberechtigt gestaltet, ohne in machtaffine Unterdrückungsspiralen zu verharren. Eine wirksame Dekolonisation hat nicht nur Objekte im Blick, sondern auch zwischenmenschliche Beziehungen. Nicht vergessen werden darf in diesem Zusammenhang der Verweis auf die bewusste Einübung einer intersektionalen Perspektive auf gesellschaftliche Diskriminierungs- und Ausgrenzungsmechanismen. Damit wird die Erkenntnis erhalten, dass es spezifische Formen aus verschiedenen politischen und pädagogischen Bearbeitungsmöglichkeiten braucht, um von- bzw. miteinander zu lernen und eine Weltperspektive zu schaffen, die eine Gleichheit aller Menschen zum Ziel hat. Das Retardierende und Wartende im Advent könnte doch genau die richtige Zeit sein, sich diesen Denk- und Handlungsprozessen zu widmen.
Alica Johanna Saathoff studiert an der Carl-von-Ossietzky Universität Oldenburg Geschichte und Evangelische Theologie. Sie ist Mitglied bei narrt, dem Netzwerk für antisemitismus- und rassismuskritische Religionspädagogik und Theologie.
Erschienen am 02.12.2020
Aktualisiert am 10.12.2020