Die schwangere Prophetin: Maria
15.12.2020 | ADVENT 2020 | Nimet Seker
Jedes Jahr um die Wintersonnenwende, wenn die kürzesten Tage des Jahres uns mit Kälte, Nebel und Dunkelheit umhüllen, zünden Christ*innen Kerzen an und gedenken der Geburt Jesu. Und jedes Jahr um die Weihnachtszeit fragen sich Christ*innen und Muslim*innen im interreligiösen Miteinander, was denn die Stellung Jesu im Islam sei. Die Antwort ist: Jesus ist ein Prophet Allahs, so wie Muhammad (Frieden und Segen seien mit ihm) auch. Daraufhin kommen weitere Fragen: Was sagt denn der Koran zu Jesus? Zu seiner Kreuzigung? Zu seiner Auferstehung? Zu seinen Wundern? Das sind berechtigte Fragen. Gott spricht im Koran aber nicht nur zu den Fragen, die wir uns heute stellen. Er hat anderes und mehr zu sagen.
Wenn wir den Koran – ohne vorformulierte Fragen – lesen, werden wir Folgendes bemerken: Maria (Maryam) erhält im Koran viel mehr Aufmerksamkeit als Jesus. Sie ist die Protagonistin der koranischen Erzählung, nicht Jesus.
Wa-dhkur fi-l-kitaabi Maryama: „Und gedenke im Buch der Maria” (Sure 19, Vers 16). Mit diesen Worten beginnt die Maria-Erzählung im Koran. Mit ihnen spricht Allah den Propheten Muhammad an und teilt ihm mit, dass er die Geschichte Marias verkünden soll. Ganze 70 Verse beziehen sich auf Maryam, deren Name in 34 Versen erwähnt wird. Im Vergleich dazu wird der Name des Gesandten Muhammad nur drei Mal im Koran genannt. Maria ist eine ganze Sure (Sure 19) gewidmet, und eine weitere Sure berichtet von ihrer Herkunft aus einer Prophetenfamilie (Sure 3).
Marias Rolle ist besonders hervorgehoben: Der Geist Gottes stellt sich ihr in Gestalt eines Menschen vor und spricht zu ihr. Dann sagt Allah: „Und Wir bliesen von Unserem ruh (Geist) in sie hinein und machten sie und ihren Sohn zu einem Zeichen für die Welten” (Sure 21, Vers 91). Allah hauchte also seinen Atem in Maria ein, damit sie jungfräulich mit Jesus schwanger werden konnte. Das heißt, sie wird schwanger, ohne einen Mann berührt zu haben. Und so wie bei dieser unberührten Empfängnis durchläuft Maria alle wichtigen Stationen ihres Lebens ohne einen männlichen Begleiter. Sie ist nicht einfach nur die Mutter des Propheten Jesus. Sie ist eine Frau, die aus sich selbst heraus und durch ihre Weiblichkeit existiert und wegen dieser unabhängigen Weiblichkeit von Allah ausgezeichnet wird.
Schon Marias Herkunft wird im Koran nicht auf männliche Vorfahren zurückgeführt, sondern auf die Linie ihrer Mutter. Auf ähnliche Weise wird die Abstammung Jesu auf seine Mutter zurückgeführt, so dass sein Name „Jesus, Sohn Marias“ ist (Sure 19, Vers 34). In der Erzählung von Marias Empfängnis bleibt Maria selbst nicht sprachlos: Sie zieht sich an einen „östlichen Ort“ zurück, wo sie mit dem Engel, der ihr in Menschengestalt erscheint, einen Dialog führt. So sagt sie: „Wie soll mir ein Junge gegeben werden, wo mich doch kein Mensch berührt hat und ich keine Hure bin?” (Sure 19, Vers 20). Nach der Empfängnis geht Maria mit dem Kind im Bauch an einen weiter entfernten Ort, wo sie sich unter Wehen und Schmerzen zu einem Palmstamm begibt. Auch hier spricht Maria, in Verzweiflung: „Wäre ich doch zuvor gestorben und ganz und gar in Vergessenheit geraten!” (Sure 19, Vers 23). Da spricht eine Stimme unter ihr – es ist nicht klar, ob es das Kind ist oder der Engel –, dass sie den Baum schütteln soll, damit sie die reifen, herabfallenden Datteln esse und sich von dem Bach, der sich unter ihr auftut, frisches Wasser trinke. Die Datteln und das Wasser, die für Fruchtbarkeit und das Paradies stehen, kommen als Barmherzigkeit Allahs in Marias verzweifelter Situation und betonen das starke Bild ihrer Weiblichkeit.
Marias Rückkehr zu ihrem Volk ist von Triumph geprägt. Auch in diesem Moment ist Maria nicht sprachlos, sondern eine Handelnde. Während ihr Beschuldigungen über Hurerei entgegengeschleudert werden, spricht das Kind Jesus auf ihrem Arm zu den Leuten und verkündet, dass er ein Prophet Allahs sei (Sure 19, Vers 22-33). Damit bestätigt das Kind, dass Maria keine Hurerei begangen, sondern eine Offenbarung empfangen hat.
Die Frucht dieser Offenbarung ist der Mensch Jesus: „Der Messias Jesus, Sohn Marias, ist Allahs Gesandter und Sein Wort, das Er an Maria richtete“ (Sure 4, Vers 171). Damit steht Maria auf Augenhöhe mit dem männlichen Propheten Muhammad. Maria ist wie Muhammad frei von Sünden und gehört zu den von Allah Auserwählten, die von der Offenbarung Gottes angesprochen werden.
Dr. Nimet Şeker ist Theologin und Islamwissenschaftlerin. Sie lehrt am Institut für Studien der Kultur und Religion des Islam an der Universität Frankfurt/Main. Daneben ist sie Vorstandsmitglied der Alhambra Gesellschaft. An der Akademie hat sie in der interreligiösen Reihe „Grenzgänge“ mitgewirkt.
Dieser Text erschien in einer früheren Fassung in den Freitagsworten.
Erschienen am 02.12.2020
Aktualisiert am 26.02.2021