Glaube in Quarantäne
18.12.2020 | ADVENT 2020 | Sarah Albrecht
„Der Test ist leider positiv.“ Nun ist es also soweit: Das Virus ist bei uns angekommen. Als die Kinderärztin das Ergebnis des Corona-Schnelltests per Telefon vermeldet, ist die Kita wegen eines anderen Infektionsfalls bereits geschlossen, im Wohnzimmer türmen sich Legosteine, Bastelsachen, Bilderbücher. Es folgen nicht enden wollende Warteschleifen in den überlasteten Telefonleitungen des Gesundheitsamts, dann Recherche im Netz: Wie funktioniert eigentlich so eine Quarantäne? Müssen wir nun wirklich 14 Tage mit einem munter umherflitzenden Kleinkind in der Stube hocken? Bei allem Selbstmitleid befällt mich der beklemmende Gedanke, wie das wohl Familien machen, die zu sechst in einer Zweizimmerwohnung leben oder in einem Zelt auf Lesbos.
„Vermutlich haben Sie plötzlich ungewöhnlich viel Zeit, da Sie nicht zur Arbeit gehen oder gewohnten Freizeitbeschäftigungen nachgehen können. Schaffen Sie sich eine Tagesstruktur und setzen Sie sich Ziele“, lese ich auf der Website des Bundesgesundheitsministeriums in der Rubrik „Tipps bei häuslicher Quarantäne“. Dieser Ratschlag ist definitiv nicht für im Homeoffice arbeitende Menschen mit Kleinkindern gedacht, denke ich und lese weiter: „Akzeptieren Sie Ihre Gefühle: Unfreiwillig in häuslicher Quarantäne zu sein, kann verschiedene emotionale Reaktionen hervorrufen.“ Das ist in der Tat nicht abzustreiten. Gerade will ich weiterklicken, da stolpere ich über den letzten Hinweis: „Bewahren Sie sich eine positive Grundhaltung und orientieren Sie sich an Werten, die Ihnen Halt geben (z.B. Familie, soziales Netz, Glaube)“.
Glaube?! Stünde dieses Wort auf der Website einer diakonischen Einrichtung, hätte ich es vermutlich glatt überlesen. Aber hier, auf der Seite des Gesundheitsministeriums? Ich muss an den wohl einzigen Satz denken, den ich aus dem ersten Semester Politikwissenschaft bis heute in Erinnerung habe: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann“. Bekannt als „Böckenförde-Diktum“, rangieren diese 13 Worte weit oben auf der Liste der immer wieder gern aus dem Kontext gerissenen und – von Verfassungsrechtler*innen wie auch von Theolog*innen – kontrovers diskutierten Zitate. Daher hier zumindest ein Minimum an Kontext: Ein freiheitlicher Staat, schrieb Ernst-Wolfgang Böckenförde, könne nur Bestand haben, „wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert.“
Als er diesen Satz 1964 schrieb, hat der Staatsrechtler bei „moralischer Substanz“ wohl vor allem an christliche Werte gedacht. Wie – wenn überhaupt – lässt sich das noch immer viel zitierte Diktum auf unsere heutige, pluralistische Gesellschaft anwenden? Kann man angesichts der religiös-weltanschaulichen Vielfalt unserer Einwanderungsgesellschaft überhaupt von „Homogenität“ als erstrebenswertem Gut sprechen? Wenn ja, was ist der Emulgator, der uns zusammenhält? Oder beschwor Böckenförde letztlich schon damals die Idee einer „Leitkultur“ herauf? Und wie hätte er wohl auf die aktuelle Kritik an den Corona-Maßnahmen reagiert: Hätte er die Einschränkung der Bewegungsfreiheit in der Quarantäne als Freiheit zur Verantwortung verteidigt? Wo hätte er die Grenzen der Meinungsfreiheit bei den Querdenker-Demos gezogen?
Während ich weiter abschweife – wobei ich doch eigentlich darüber nachdenken wollte, wie nun also mein Glaube mir das Leben in Quarantäne erleichtern könnte –, klingelt das Telefon. Wieder die Kinderärztin: „Ich habe gute Nachrichten. Der Schnelltest war falsch-positiv. Ihr Kind hat kein Corona“. Halleluja!
Sarah Albrecht ist Islamwissenschaftlerin und seit letztem Jahr Studienleiterin für Theologie und interreligiösen Dialog an der Evangelischen Akademie zu Berlin.
Erschienen am 02.12.2020
Aktualisiert am 06.01.2021