Advent und Palmenstrand
19.12.2020 | ADVENT 2020 | Michael Jungclaus
Advent und Palmenstrand passen nicht zusammen. Weihnachten fand bei mir immer nur zu Hause statt. Im Kreise der Familie, mal besinnlich, mal hektisch, aber immer ganz traditionell. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, zu dieser Zeit in die Ferne zu schweifen. Genauso wenig, wie ich jetzt auf die Idee komme, zum Fest nach Hause zu fliegen. Adventsstimmung kommt bei uns natürlich trotzdem auf und so werden wir uns das auch hier weihnachtlich gestalten.
Seit anderthalb Jahren sind wir auf Segeltour. Wir wollten einmal um die Welt, unterwegs Land und Leute kennenlernen. Stattdessen jagten wir Wetterfenstern und Terminen hinterher – fast wie zu Hause. Erst der Lockdown in Kolumbien brachte uns die Entschleunigung. Wir saßen im Hafen fest und waren zum Nichtstun verurteilt. Jedenfalls fast. Mit Spendengeldern aus Deutschland organisierten wir ein Dutzend Touren, um die Bedürftigen hier mit dem Nötigsten zu versorgen. Der Lockdown hatte ihnen den Boden unter Füßen weggerissen. Und plötzlich lernten wir Land und Leute kennen.
Diana, die ihre Heimat wegen Menschenrechtsverletzungen durch den Bergbau verlassen musste. Ihr Neffe wurde sogar ermordet und trotzdem geht ihr Blick nach vorne.
Jesus, der obdachlose Müllsammler, der nie weiß, was der nächste Morgen bringt. Aber für ihn gibt es nur gute Tage, weil Gott immer etwas bereithält.
Mara, die deutsche Auswanderin, die mit ihrem kleinen Hotel dem Lockdown trotzt. Jetzt wird auch noch ihr Strand vom Meer geschluckt.
Trotz Verständigungsschwierigkeiten trafen wir auch indigene Wayuu, deren komplettes Dorf aufgrund von Bedrohungen durch Drogenkartelle umgesiedelt wurde. Sie leben von der Hand in den Mund, aber im Einklang mit der Natur und in einer festen Gemeinschaft.
Alle haben ihre Geschichten. Viele davon habe ich aufgeschrieben. Nicht alle Gedanken und Gefühle passen auf Papier, sie bringen aber eine andere Sicht auf viele Dinge. Karriere und Konsum, Status und Privilegien, Freiheit und Selbstverwirklichung, Vergnügen und Genuss. Nach dem Erlebten ist das Grübeln groß. Erst recht in der Adventszeit. Erst recht während Corona. Eine der kleinsten Lebensformen unserer Erde tritt gegen das vermeintlich höchstentwickelte Lebewesen an. Und deckt schonungslos unsere Schwachstellen auf.
Ich schaue die Nachrichten aus Deutschland und reibe mir die Augen. Menschen gehen auf die Straße um gegen unsere „Scheindemokratie“ zu demonstrieren. Sie fürchten eine „Corona-Diktatur“ und wittern Verschwörungen. Sie verachten Kompromisse und ziehen Gräben quer durch Freundschaften und Familien. Demgegenüber sehe ich die echten Demokratiedefizite in Südamerika wie Wahlbetrug, Korruption, und Behördenwillkür, von denen mir berichtet wird. Und dann blicke ich in die Gesichter der Menschen hier. Sie erdulden mehr, aber sorgen sich weniger; sie besitzen weniger, aber lachen mehr. Ich nehme mir vor, etwas davon mit nach Hause zu bringen. Morgen zünden wir auf der DAPHNE vier Kerzen an und essen zu Weihnachtsmusik etwas, das entfernt nach Stolle schmeckt.
Michael Jungclaus war zehn Jahre lang Mitglied des Brandenburger Landtags und startete im Sommer 2019 mit seiner Frau eine wissenschaftlich begleitete Weltumseglung, mit der Klimawandel und Umweltzerstörung entlang der Ozeane dokumentiert werden sollen. www.sailingdaphne.com
Erschienen am 02.12.2020
Aktualisiert am 13.01.2021