Spiritual Care in der Pandemie – auch für Mitarbeitende
23.12.2020 | ADVENT 2020 | Simone Ehm
Wird die Chemotherapie bei der Nachbarin anschlagen? Kann die demenzkranke Mutter nach dem Sturz Weihnachten noch einmal mit der Familie feiern? Wird der Schwager nach seinem Herzinfarkt wieder arbeiten können? Nicht nur schwerkranke Covid-19-Patient*innen und ihr Umfeld sind in der Pandemie mit existenziellen Fragen und Nöten konfrontiert. Genau wie vor Corona bekommen Menschen auch kurz vor Weihnachten Krebsdiagnosen, erleiden Knochenbrüche, haben Herzprobleme.
Diese Menschen nicht nur körperlich gut zu versorgen, sondern auch für das, was sie im Innersten umtreibt, sensibel zu sein, gilt inzwischen als weithin anerkannte Aufgabe aller Gesundheitsberufe. Überschrieben wird diese Dimension professionellen Handelns mit dem Begriff Spiritual Care. In der Coronazeit gewinnt diese Sorge für die Seele an Bedeutung: In Gesundheitseinrichtungen ist der direkte Kontakt zwischen Hilfe- und Pflegebedürftigen und ihrem Umfeld eingeschränkt, wenn nicht gar untersagt. Zudem spüren Menschen in Pandemiezeiten verstärkt, wie gefährdet das Leben ist. Wie aber geht sorgende Begleitung unter heraufordernden Corona-Bedingungen? Wie gelingt Anteilnahme, wenn die Ressourcen noch knapper sind als sonst? Wie kann ohne körperliche Nähe Trost gespendet werden?
Viele Pflegende, Ärztinnen, Seelsorgende und Therapeuten stellen sich diesen Herausforderungen mit viel Kreativität und hohem zusätzlichem Einsatz. Nicht selten gelangen sie dabei an die eigenen Grenzen. Sie organisieren Familien-Videokonferenzen auf Intensivstationen. Sie versuchen Bewohnerinnen zu beruhigen, die nicht verstehen, warum der Sohn so selten kommt und jeder Besucher hinter einer Plexiglasscheibe sitzt. Sie lesen Briefe vor und bieten Online-Seelsorge an. Sie kümmern sich um regelmäßige Telefongespräche mit besorgten Angehörigen und loten im Team aus, in welcher Situation ausnahmsweise Besuch gestattet werden sollte. Dabei halten sie aus, dass jeder Besuch in einer Einrichtung Gewinn und gleichzeitig Risiko ist, dass sie selbst täglich Infektionsgefahren ausgesetzt sind, dass manche Regelungen den eigenen Wertvorstellungen widersprechen, dass es Patientinnen gibt, die am Ende trotz aller Bemühungen isoliert sterben und dass zeitgleich Menschen ohne Masken demonstrieren.
In der Coronakrise wird uns neu vor Augen geführt, wie dringend notwendig es ist, Menschen in Kliniken und Pflegeeinrichtungen auch seelisch zu begleiten. Wir können beobachten, mit welcher Geschwindigkeit innovative Angebote im Bereich Spiritual Care umgesetzt werden. Mehr als zuvor braucht es dafür Räume, in denen Mitarbeitende in Ruhe überlegen können, wie Gefährdungslagen tagesaktuell einzuschätzen sind und welche Spielräume es für menschliche Nähe gibt. Insbesondere aber braucht es Räume, in denen das existenzielle Erleben der Mitarbeitenden selbst vergegenwärtigt werden kann. Pandemiebedingt sind sie mit vielen unauflösbaren Dilemmata konfrontiert, oft werden professionelle ethische Prinzipien verletzt. Diese Verletzungen aufzugreifen und ins Gespräch zu bringen, ist Führungsaufgabe. Es braucht bewusste Unterbrechungen des Arbeitsalltags, die eine Distanz zu den Erfahrungen in der Pandemie ermöglichen. Gefragt sind Angebote, die Mitarbeitende durch ein gemeinsames Aushalten der Gewissens-Nöte entlasten, eine Vergewisserung über geteilte Werte und Standards fördern, aber auch die Grenzen des beruflichen Tuns aufzeigen. Sinn- und Kraftquellen in der eigenen Arbeit lassen sich so (wieder) entdecken. Dies braucht es in allen Gesundheitsberufen.
Simone Ehm, Gesundheitsmanagerin und Theologin, ist Studienleiterin für Ethik in den Naturwissenschaften an der Evangelischen Akademie zu Berlin.
Erschienen am 02.12.2020
Aktualisiert am 06.01.2021