Zur Besinnlichkeit gezwungen
30.11.2020 | ADVENT 2020 | Katharina von Kellenbach
Es stimmt, dass Einsamkeit krank macht, und so befürchten die Experten für psychologische Gesundheit ein sprunghaftes Ansteigen an Depressionen und diversen seelischen Krankheiten in dieser Advents- und Weihnachtszeit. Der Mensch ist ein „zoon politikon“, wie das der antike Philosoph Aristoteles ausdrückte, und als soziale Wesen werden wir in der Einsamkeit krank. Es ist eine bedrückende Vorstellung, an die kommenden dunklen und kalten Tage zu denken, die wir in sozialer Distanz und eingeschränkter Versammlungsfreiheit, und ohne Familien aushalten müssen.
In der Kirchengeschichte gibt es eine lange Tradition von Einsiedler*innen und Eremit*innen, von Anachoret*innen und Säulenheiligen, die sich in die Wüste zurückzogen und in Höhlen hausten, oder sich wie Hildegard von Bingen in Kirchenwände einmauern ließen oder in karge Klosterzellen zurückzogen. Dort suchten sie die Stille und Einsamkeit, nicht nur für ein paar Tage und Monate, sondern jahrelang und das ganze Leben. Was suchten und fanden diese Menschen in der totalen Einsamkeit?
Es ist uns modernen Menschen, die wir medial überflutet und an Waren und Dienstleistung reich gesättigt sind, geradezu unmöglich, uns vorzustellen, was diese Menschen damals in die Isolation und Askese trieb. Was sahen und hörten sie dort? Wir können ihre Texte lesen, aber die Erfahrungswelt ihrer intensiven Gespräche mit Gott, ihre lebhaften Visionen und ekstatischen Gebetserfahrungen bleiben uns fremd und unzugänglich. Sie waren sehn/süchtig nach Gott und bereit, alles dafür aufzugeben, radikal mit ihren Familien zu brechen, ihren Namen und Stand aufzugeben. Jede Form menschlicher Geselligkeit wurde ihnen zuwider, nur noch Zeitverschwendung und Ablenkung. Wonach ihre Seelen dürsteten, ist uns heute irgendwie abhandengekommen.
Es wird wohl keinen Weg zurückgeben, der uns erlaubt, uns noch einmal wirklich in diese Seelenleben und Gefühlswelten einzufühlen. Aber wir könnten uns von diesen Traditionen anregen lassen, die Verlangsamung und Vereinsamung, die uns in dieser Adventszeit und Weihnachtszeit bevorsteht, als Chance zu begreifen. Einsamkeit muss nicht zwingend krank machen. Sie kann auch zum Ort der Begegnung mit der leisen inneren Stimme werden, die sich oft im Lärm und Trubel des regulären Lebens nicht durchsetzen kann.
Wenn in diesem Jahr die Weihnachtskarten, die eine besinnliche und beschauliche Adventszeit wünschen, harte Realität werden, dann werden wir gezwungen sein, in uns zu gehen. Ohne Ablenkung durch Besuche auf dem Weihnachtsmarkt und der Betriebsfeier, ohne Weihnachtschöre und Geschenkebescherung unterm Weihnachtsbaum, bleibt uns nur noch die Besinnung zuhause.
Und ich bin überzeugt, dass in einer solchen Stillen Heiligen Nacht das Wunder passieren wird, das Mut für die Zukunft und neues Leben möglich macht.
Katharina von Kellenbach ist Professorin für Religious Studies am St. Mary's College of Maryland und und seit November Referentin des neuen Projekts "Bildstörungen: Elemente einer antisemitismuskritischen pädagogischen und theologischen Praxis" an der Evangelische Akademie zu Berlin.
Erschienen am 25.11.2020
Aktualisiert am 30.11.2020