Beobachtungen in einer veränderten Welt 16

Von der Ambivalenz der Nächstenliebe in Coronazeiten

Beobachtungen in einer veränderten Welt 16 - Irmgard Schwaetzer

Corona-Blog Schwaetzer

© EAzB/EKD

Irmgard Schwaetzer gehört zu denjenigen Menschen, die aufgrund ihres Alters als besonders gefährdet gelten. Sie empfindet viele der derzeit getroffenen Entscheidungen im Blick auf die Einschränkung von Freiheitsrechten als paternalistisch. Sie fragt: Wo bleibt der Respekt vor meiner Selbstverantwortung?
Mitte März ging es los mit den Einschränkungen. Natürlich hat sich auch mein Amt als Präses der EKD-Synode dadurch verändert. Das Meiste geschieht seit dem Lockdown digital und nicht mehr im analogen Kontakt. Klar, manches ist schwieriger, weil die direkte Interaktion fehlt. Aber alles Notwendige wird entschieden und erledigt. Trotz Corona.
Das mit den Videokonferenzen zum Beispiel war echt eine Erfahrung. Wer hätte gedacht, wie schnell sich auf diesem Weg Sachverhalte klären und vernünftige Entscheidungen finden lassen. – Und man ahnt schon: wohl so etwas wie eine große Generalprobe für ein deutlich ressourcenschonenderes Arbeiten in der Zukunft, zumindest in Teilbereichen einer großen vernetzten Gesellschaft mit komplexen Entscheidungsstrukturen. So weit, so zukunftsrelevant, so gut.
Etwas anderes ist gar nicht gut. Da merke ich, wie immer wieder Wut in mir aufsteigt. Und zwar jedes Mal dann, wenn die Schwestern und Brüder so vermeintlich empathisch davon sprechen, dass „wir“ ja jetzt den Einschränkungen unserer Freiheit zustimmen müssen, um die Schwachen zu schützen, die besonders Verletzlichen. Genau, denke ich reflexhaft. Doch dann dämmert mir: da wird auch über mich geredet. Da soll auch für mich entschieden werden! Diese wohlmeinende Bevormundung ertrage ich nicht! Dabei sind die für alle verbindlichen Vorgaben klar. Es wird empfohlen Kontakte zu meiden, Abstands- und Hygieneregeln zu beachten, um die Ausbreitung des Virus einzudämmen und das Gesundheitswesen nicht zu überfordern. In den Überlegungen, die zu diesen Empfehlungen führen, spielen natürlich Risikogruppen eine Rolle. Aber aus dem „wir müssen sie doch schützen“ entsteht ein Erwartungsdruck, der auch noch von Angst getrieben wird, und der bei Vielen letztlich in die Selbstisolation führt.
Und ich frage mich: Wieviel von der Lebenswirklichkeit der Betroffenen wird eigentlich wahr- und ernstgenommen von denen, die gerade für die Anderen denken, reden und handeln, für die Alten, Kranken und die besonders Gefährdeten?  Wo bleibt der Respekt vor meiner Selbstverantwortung?
Sicher: Mit meinen 78 Jahren und den alterstypischen Einschränkungen gehöre ich zu den von einer Infektion besonders Gefährdeten. Aber wie viele andere in meinem Alter auch kann und möchte ich selbst für mich Verantwortung übernehmen, möchte selbst entscheiden, wie viel Risiko ich eingehe. Ich will mich ja selbst vor der Infektion schützen, also bin ich vorsichtig.
Es scheint mir an der Zeit zu sein, die paternalistische Attitüde einer Argumentation zu hinterfragen, die mit der gut gemeinten Absicht, die Vulnerablen zu schützen, sie de facto von vielen sozialen Kontakten dauerhaft ausschließt.  Boris Palmer ist ja nur eine besonders exponierte Stimme derer, die mit dieser Stigmatisierung einer Personengruppe nicht weniger als eine Spaltung der Gesellschaft in Kauf nehmen. Und noch dazu viele der so auf ihre Wohnung beschränkten älteren Menschen vereinsamen lassen. Alle diejenigen, die mit großer Empathie und ohne jedes Gespür für Diskriminierung über die Isolation von Risikogruppen laut nachdenken, vergessen, dass wir alle in einem Boot sitzen. Inzwischen ist klar, dass auch Jüngere ohne Vorerkrankungen an Covid-19 sterben. Kein Grund also für jede Form der Diskriminierung.
Ein Anlass mehr, immer wieder darauf hinzuweisen, dass Nächstenliebe ohne Menschenwürde nicht lebensdienlich ist. Darauf hat Wolfgang Schäuble uns völlig zurecht noch einmal aufmerksam gemacht.  Also: Lasst uns unsere Menschenwürde, lasst uns die Selbstverantwortung. Und: Lasst uns über die Zukunft gemeinsam nachdenken.
Ich freue mich jeden Tag – natürlich hinter meiner geschlossenen Wohnungstür – wenn die 6-jährigen Zwillinge, die mit ihren Eltern oben wohnen, durchs Treppenhaus toben. Ich finde es selbstverständlich, dass Familien, die seit Wochen mit massiven Einschränkungen zurechtkommen müssen, endlich – vorsichtig – wieder mehr Freiheiten bekommen, und es bekümmert mich, dass dies so zögerlich passiert.
Und manchmal ist es überlebenswichtig, dass Besuche in Pflegeheimen möglich gemacht werden. Mein ältester Bruder (90) nimmt seine Isolation hin, aber er leidet enorm darunter, dass seine Kinder ihn nicht besuchen können. Ich finde es unabdingbar, dass in diesen Einrichtungen Vorkehrungen geschaffen werden, die solche Besuche möglich machen.
Zum Lebensschutz, zu dem uns das Grundgesetz aber auch unsere Nächstenliebe verpflichtet, gehört nicht nur die physische Gesundheit, sondern auch die seelische. Diese Erkenntnis sollte für uns selbstverständlich sein.

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