#StayAtHomeOffice? Über neue digitale Normalitäten
Beobachtungen in einer veränderten Welt 17 - Timo Versemann
Auf die Veränderungen und Erfahrungen des digitalen Lebens und Arbeitens durch die Covid-19-Pandemie blickt Timo Versemann in seinem Blog-Beitrag. Er plädiert dafür, die sich verändernden Umstände nicht nur als Ausnahmezustand, sondern auch als kritische Lernphase zu begreifen.
Ich darf momentan an der Akademie Lösungen für digitale Formate entwickeln. Das bedeutet oft stundenlange Recherchen zu technischen und didaktischen Fragen im Homeoffice. Wenn mein Kopf davon mürbe wird, erhebt sich mitunter in mir eine Stimme, die auf der Melodie des Straßburger Kyries statt „Kyrie Eleison“ dreimal das Wort „digitalisation“ singt. Ob das Ausdruck meiner eigenen Überheblichkeit oder übertriebener äußerer Erwartungen ist, sei dahingestellt.
Durch den Lockdown waren auf einen Schlag Dinge möglich, die vorher undenkbar waren. Tägliche Videokonferenzen sind für viele der momentane Standard. Die meisten erlebe ich als effizient, zumal sie nicht mehr mit den üblichen „Hört ihr mich? – Seht ihr mich?“-Fragen belastet sind. Viele haben es geschafft, vor dem Ausverkauf ihr Audio- und Videoequipment auf ein für Ohren und Augen freundliches Niveau zu bringen. Das alles ist wie Fahrradfahren und wird – hoffentlich – so schnell nicht wieder verlernt werden.
Manches überregionale Treffen wird in Zukunft weiter digital stattfinden und dadurch Zeit und Umwelt schonen. Die omnipräsente Frage nach den wesentlichen und den systemrelevanten Dingen bringt mir vor Augen, wie wesentlich für mich die kohlenstoffliche Begegnung ist. Ich sehne mich nach dem kreativen und kollaborativen Arbeiten in der kohlenstofflichen Welt: in der Akademie, auf Schwanenwerder oder einem der vielen anderen Orte.
Wie digitale Brücken zu und zwischen diesen kohlenstofflichen Begegnungen aussehen können, entwickeln und erproben wir momentan. Dabei geht es nicht darum, das hundertste Video zu machen, damit auch wir irgendwas gemacht haben. In dieser fehlertoleranten Zeit probieren wir, was wir gemeinsam können und was wir noch lernen müssen, um die Rahmenbedingungen für zukünftiges Arbeiten zu gestalten.
So wie es z.B. beim medizinischen Personal nicht bei Applaus bleiben darf, sondern zur Anpassung der tariflichen Vergütung, so müssen auch die netzpolitischen Erfahrungen in neue Normalitäten überführt werden: Wenn die Nachbarschaft sich gegenseitig die theoretische Internetbandbreite wegnimmt, wird klar, warum schon lange Glasfaseranschlüsse statt Telefon- und Fernsehkabel auf der letzten Meile gefordert werden. Wenn die Menschen zuhause nicht nur konsumieren, sondern auch produzieren, zeigt sich, wofür Menschen symmetrische Internetverbindungen gebrauchen können, bei denen genauso schnell hoch- wie runtergeladen werden kann.
Die Forderungen nach Ende-zu-Ende-Verschlüsselung in der (Video)Kommunikation sind hoffentlich nicht nur ein Abwehrreflex gegen aktuelle Softwarelösungen. Der gesellschaftliche Diskurs muss nachhaltig die Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit guter und sicherer Softwareinfrastruktur prägen. Damit wir in Zukunft ohne Kompromisse entscheiden können, welche Dinge wir im Homeoffice erledigen wollen und welche nicht – wenn epidemiologisch die Zeit der freien Entscheidung dafür gekommen ist.
Die Covid-19-Pandemie und unser Umgang damit bleibt hoffentlich kein Ausnahmezustand, in dem alles anders ist. Für mich ist sie ein medizinischer, ökonomischer und psychischer Extremzustand der Gesellschaft. Ein Zustand, der uns die Extreme unserer Belastbarkeiten genauso wie unserer Möglichkeiten aufzeigt, um miteinander zu lernen wie gelingendes Leben aussehen kann oder auch nicht.
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Erschienen am 07.05.2020
Aktualisiert am 08.01.2021