Untie to tie
Beobachtungen in einer veränderten Welt 21 - Jacqueline Boysen
Mit der Pandemie müssen wir unser Verständnis von individueller Freiheit überdenken, meint Jacqueline Boysen. Im Alltag mit Corona ist unser Verhalten ständig neu auszuloten. Je mehr Freiheiten staatliche Verordnungen zurückgeben, desto größer die eigene Verantwortung – eine protestantische Tugend
Untie to tie – so heißt eine Ausstellung zu Migration in Berlin Mitte. Der Ausstellungstitel stammt aus Vor-Corona-Zeiten. Entbinden, also: aufknoten, um zusammenzubinden. Die Reizarmut dieser Tage weckt eine neue Aufmerksamkeit: Heute haben selbst drei im Vorbeiradeln gelesene Worte Zeit, im Kopf herumzuspuken. Was sagen sie, diese Worte? Löse die Fesseln, um zu fesseln – das klingt nach Obsession, Psychoterror oder Machiavelli 2.0. Versprich die Freiheit und schaffe Abhängigkeit. Angesichts der Pandemie und des Lebens in engen Schranken lesen sich die Worte anders: Lockere die Beschränkungen und stärke den Zusammenhalt.
Untie to tie. Der Satz wirft im Deutschen die Fragen auf: Wer befreit oder löst sich wovon oder von wem? In unserer libertären, westlichen Welt ist viel gelockert, was der freien Entfaltung des Individuums über Jahrhunderte im Weg stand. Wir genießen gesicherte Grundrechte und Freiheiten. Verbindlichkeiten und Verpflichtungen sollen heute aus freien Stücken eingegangen werden. Grenzen und Mauern sind gefallen, Zwänge oder tradierte Konventionen längst gelockert.
Alles soll möglich gemacht werden, damit wir tun und lassen können, was wir wollen, was wir persönlich für richtig erachten. Die Anderen scheinen außer Sicht. Der Staat soll die Freiheit schützen – und die Kosten tragen, die Gemeinschaft wird in Haftung genommen, um Risiken abzufedern. In diesem – hier überspitzten – Szenario ist die Freiheit so groß wie der Trugschluss, unser Leben habe nicht mehr viel mit Verantwortung für Andere zu tun.
Mit der Pandemie endet dieses überzogene Verständnis von angeblicher Freiheit. Denn in jedem von uns kann das Virus stecken, jeder von uns kann tödlich erkranken, auch Menschen, die keiner Risikogruppe zuzurechnen sind. Danach müssen wir alle jetzt handeln. Die politisch Verantwortlichen konnten zwar entscheiden, dass alle zu Hause bleiben müssen, dass alle Räder stillzustehen haben, dass nur noch existentielle Bedürfnisse nach Essen und Trinken, Bildung und Gesundheitsversorgung erfüllt werden. Aber es ändert nichts an dem fatalen Zusammenhang: Jeder und jede kann ansteckend sein oder kann angesteckt werden. Davon kann sich niemand freisprechen. Gegen diese beiden miteinander verbundenen Risiken gibt es keine Versicherung. Das rührt unweigerlich an unser Verständnis vom Miteinander: Plötzlich wird sichtbar, wie stark es auf jeden und jede von uns ankommt – auf unser eigenes Verhalten. So wie wir uns über das Gebot, Du sollst nicht töten, einig sind, folgen die allermeisten Menschen in unserem Land jetzt dem ungeschriebenen Gebot: Du sollst nicht anstecken. Übe Rücksicht, wenn alle das tun, dann wirst auch Du nicht angesteckt.
Auch wenn Politiker uns die Entscheidung zunächst abgenommen haben, wie es laut Grundgesetz ihre Aufgabe ist – jetzt liegt sie bei uns. Untie to tie: Die Lockerungen verpflichten uns alle. Sie appellieren an unsere Vernunft. Kann ich es verantworten, mit dem alten Herrn in der Nachbarschaft ein Glas Wein zu trinken, nachdem ich gerade in einem ziemlich überfüllten Geschäft für ihn eingekauft habe? Soll ich mit Bargeld zahlen, obwohl die Kartenzahlung mit weniger Berührung verbunden ist? Arbeitet die Mitarbeiterin, der damit die lange Bahnfahrt erspart bleibt, im Homeoffice oder vielleicht besser der Kollege, der seine Kinder betreuen muss?
Wer im Sterben liegt, dem muss die Hand gehalten werden – da ist die Gefahr, Viren ins Zimmer zu schleppen oder sich vielleicht anzustecken, nachrangig. Es sollte alles getan werden, um einen Abschied möglich zu machen. Dass Familienangehörige isoliert sterben mussten, mehr als zu normalen Zeiten, war falsch, hier wurde übertrieben rigoros gehandelt. Und viele Menschen haben das so empfunden: Sterbenden nicht beistehen, sich nicht verabschieden zu können, ist unmenschlich. Aber die wenigsten Situationen sind so eindeutig.
Wir müssen im Alltag mit Corona unser Verhalten ständig neu ausloten – und je mehr Freiheit uns die staatlichen Verordnungen zurückgeben, desto größer unsere eigene Verantwortung. Die Krankenschwester, die ihren betagten Vater seit Februar nicht gesehen hat, weil sie verpflichtet ist, ihre persönlichen Kontakte zum Schutz ihrer Patienten einzuschränken, hat keine Wahl. Aber die meisten von uns haben Spielräume und können abwägen. Es braucht nur Gemeinsinn und Mitgefühl. Das Verständnis dafür, dass jeder von uns für unsere Gesundheit und für unser Zusammenleben verantwortlich ist. Die Verbote der vergangenen Wochen haben leider wenig zum eigenverantwortlichen Handeln beigetragen: Wenn Spielplätze über Wochen gänzlich geschlossen sind, werden sie natürlich überrannt, sobald die Absperrung gelöst ist. Verbote reizen dazu, das Verbotene erst recht zu tun...
Untie to tie. Ein Gebot der Stunde. Gelockerte Einschränkungen erwarten Vernunft von uns, denn sie ermächtigen uns zum verantwortlichen Handeln! Die evangelische Lesart könnte lauten: In der Freiheit des Glaubens steckt Verbindlichkeit. Unsere Beziehung zu Gott macht frei – damit trägt und bindet sie uns. Die Gnade Gottes erwartet nichts, aber mit unserem Glauben ist nicht Beliebigkeit, sondern tätige Nächstenliebe verbunden. Dass Christen dazu berufen sind, könnten wir der Gesellschaft deutlich zeigen. Gerade in schweren Tagen wie diesen.
Dr. Jacqueline Boysen arbeitet in der Bundestagsverwaltung und ist Projektstudienleiterin des Ost-Westeuropäischen Gedenkstättentreffens Kreisau.
Erschienen am 27.05.2020
Aktualisiert am 08.01.2021