„Fürchte dich nicht!“
Beobachtungen in einer veränderten Welt 8 - Christian Staffa
Corona weckt in Europa verschüttet geglaubte Ängste vor „Tod und Verderben“. Was kann Ostern heißen in diesen Zeiten, wie können wir Mord und Auferweckung Jesu gegen Angst und Furcht buchstabieren? Der achte Beitrag des Blogs „Beobachtungen in einer veränderten Welt“ kommt von Christian Staffa.
Gänzlich ungewohnt für mich, und doch schon fast konservativ in diesen ungewöhnlichen Zeiten, saß ich am Karfreitag vor dem Fernseher und sah einen klassischen Gottesdienst. Er unterschied sich von einem üblich „klassischen“ natürlich durch die Präsenz der Abwesenheit der Kirchgänger*innen. Trotzdem nahm er mich ganz in sich auf, bewegte mich bis hin zu Tränen in den Augen schon in den Eingangsvoten, die den Schmerz der zu bewältigenden sozialen Distanz aufriefen. In der Predigt buchstabierte der Bischof der EKBO, Christan Stäblein, den Satz: „Jesus schrie laut und verschied“ (Mk 15,37). „Durchbuchstabieren“, das war schon ein Unterfangen, was mich aufhorchen ließ. Wie der Schmerz Jesu zur Sprache kam, der die Opfer der Geschichte mit in unsere Herzen trägt, wie der Protest laut wurde und werden soll, der Protest gegen den Tod. Darin war auch eingelesen der verzweifelte Ruf aus Psalm 22: „Mein Gott, mein Gott warum hast du mich verlassen?“ Ein Angstschrei, ein Protest, hineingerufen in den Resonanzraum der Erfahrungen Israels.
Erfahrbar wird da das Eintreten Jesu in die Geschichte Israels, in die Menschheitsgeschichte in der letzten Angst vor dem Tod, aber eben auch nicht nur irgendeinem Tod, sondern einem gewaltsamen von Menschen gemachten Tod, durch jenen zu Unrecht so verharmlosten Pilatus.
Mein Weg ging dann mit diesem Buchstabierten in Herz und Kopf hin zu dem Lied „O Haupt voll Blut und Wunden“, das – das ist meine einzige fundamentale Kritik an diesem Gottesdienst – leider nicht wirklich zum Mitsingen gedacht war.
In Strophe 9 heißt es:
„Wenn mir am allerbängsten
wird um das Herze sein,
so reiß mich aus den Ängsten
kraft deiner Angst und Pein.“
Die Worte der jüdischen Schriftstellerin Mascha Kaléko tauchten hier unwillkürlich in mir wieder auf (vergl. Beitrag 5 „Vom Davonjagen der Ängste“): „Jage die Ängste fort, und die Angst vor den Ängsten“. Sie fordert (sich? mich? oder jemanden drittes?) dazu auf, die Ängste fortzujagen, die Ängste, die da sind, aber nicht abzuwehren, sondern anzunehmen, um sie fortjagen zu können. Die Ängste, aus denen Arnulf von Löwen (der Autor der ursprünglich lateinischen Liederzeilen, die Paul Gerhard nachdichtete) herausgerissen zu werden bittet, sind Todesängste, wie vielleicht alle Ängste am Ende solche sind.
Ja! will ich sagen - und doch komme ich mir selbst in die Quere, weil ich seit den rechtspopulistischen Demonstrationen und den mir oft deutlich zu verständnisvollen Reaktionen darauf mit dem zunächst für die theologische Debatte gedachten Satz hausieren gehe bzw. mich beschäftige: Angst ist Sünde. Die „Angst“ der Brüllenden, die ich eher als Aggression wahrnehme, die aber nicht selten eben als Angst verstanden wird. Ich lese sie zumeist als Angst um die Privilegien als weiße Männer, als weiße Deutsche jeden Geschlechts, als Europäer*innen, als Angst vor (mehr) Macht- und Kontrollverlust.
Doch in Corona Zeiten, wo uns erstmals seit langen Jahrzehnten eine Bedrohung im Haus steht, die wir Europäer*innen sonst nur aus dem Fernsehen kennen, scheint mir Angst auch produktiv. Die Bräsigkeit, mit der ein Boris Johnson oder ein Donald Trump zunächst sich furchtlos zeigten, war bzw. ist tödlich. Es geht wohl nur mit dem Scheiden der Geister, mit dem Zuspruch, den ich in der Schrift höre: Fürchte dich, und lasse Taten folgen; fürchte dich nicht und handle. 365 Mal steht in der Heiligen Schrift: „Fürchte dich nicht“. Für jeden Tag zum Buchstabieren.
Dieser Text steht unter CC-0 und darf frei geteilt und modifiziert werden.
Erschienen am 14.04.2020
Aktualisiert am 08.01.2021