Kairos durch leere Kirchen
Beobachtungen in einer veränderten Welt 9 – Heinz-Joachim Lohmann
Für neue Wege, sich in Zeiten verbotener Gottesdienste die Botschaften des Evangeliums zu erschließen, wirbt Heinz-Joachim Lohmann in seinem Blog-Beitrag. Im Blick auf die gerade besonders drängenden Fragen zu Tod und Vernichtung empfiehlt er eine Aufführung der Johannespassion der Berliner Philharmoniker.
Die Kirchen blieben leer. Die Kerzen leuchteten nicht. In der Geschichte der evangelischen Christenheit versammelte sich noch nie keine Gemeinde an Karfreitag und Ostern. 2020 in Deutschland predigten Pfarrerinnen vor leeren Kirchenbänken und trugen die Botschaft in Ton und/oder Bild in die Welt hinaus. Die Empfängerinnen saßen allein oder in Gruppen vor dem Bildschirm, nicht wenige mit dem Gesangbuch in der Hand. Mit den Eingangsklängen der Orgel versammelte sich eine Gemeinde, deren Mitglieder sich untereinander zwar größtenteils nicht hörten, sich aber bewusst waren, dass sie durch Hauswände und Entfernungen hinweg miteinander verbunden waren.
Karfreitag 2020 eröffnete erstmals einen Raum, in dem sich die Suchenden dem Leiden und Sterben Jesu nähern mussten, ohne in die Kirche um die Ecke laufen zu können. Karfreitag und Ostern 2020 trafen uns in einer Situation, in der Krankheit und vielfältiger Tod unseren Alltag radikal veränderen. In der Frage wie Gott das zulassen kann, liegt die Erwartung, dass sich das Schlimme verhindern lässt. In Jesu Weg zum Kreuz manifestiert sich die Tatsache, dass auch Gott in dieser Welt der Vernichtung ausgeliefert ist und ihr nicht entkommen kann. 2020 bleiben auch nach dem Osterfest die Karfreitagsfragen präsent.
Bachs Konstruktion des Sterbens Jesu in der Johannespassion dokumentiert diese Fragen in aller ihrer Ausweglosigkeit: Verrat durch Petrus und die Jünger, das Versagen des Pilatus, der einen Unschuldigen vor sich stehen sieht, mit dem er sympathisiert und den er dann doch auspeitschen lässt und der Vernichtung überantwortet. Solidarität durch Maria Magdalena, die Liebende, und Maria, die Mutter. Die Volksmassen, die ihrer eigenen krausen Logik folgend, den Tod dessen verlangen, von dem sie glauben, dass er nicht zu ihnen passt. Diese Volksmassen werden bei Bach vom gleichen Chor repräsentiert, der in großer Zartheit seine Nähe zum Gequälten und Gemarterten besingt, von dem er trotz allem Überwindung des Leidens erwartet. Auf der einen Seite ist die Johannespassion ein Stück des übelsten Antisemitismus, der in der Geschichte der klassischen Musik je zu Papier und Gehör gebracht wurde. Auf der anderen Seite eine treffliche Beschreibung von Massen, die die Vernichtung des Einzelnen fordern. Die, die Bach hier die „Jüden“ nennt, könnten genauso gut die Christen, die Deutschen, die Buren oder ein wütender Mob in jedem anderen Volk sein.
Eine berührende halbszenische Aufführung der Johannespassion entstand in den letzten Jahren durch die Zusammenarbeit des Regisseurs Peter Sellars mit dem Berliner Philharmonischen Orchester. Die beiden Marias in rot und blau, Petrus und Pilatus mit dem gleichen Sänger besetzt, nur eine kleine Gruppe des Chores fordert: „Kreuziget ihn“. Die Hoffnung auf Überwindung, die in den sehnsuchtsvollen Gesängen am Ende liegt. Und im Pausengespräch erläutert Peter Sellars seine Nähe zu dieser Bach‘schen Passion. Er schließt mit dem Bild des sinkenden Petrus. Jesus sagt: Komm her, Du hast die Kraft, auf dem Wasser zu laufen. Wer versagt, muss nicht untergehen. Wer Angst hat, entdeckt die Kraft, sie zu verwandeln.
Karfreitag 2020 zwingt uns zu neuen Wegen. Die Kirche um die Ecke ist geschlossen. Die Berliner Philharmoniker eröffnen mit einem dreißigtägigen kostenlosen Zugang zu ihrer „Digital Concert Hall“ die Möglichkeit, in diesen Tagen, auf dem Weg nach Pfingsten, Karfreitag mit anderen Augen zu sehen und anderen Ohren zu hören.
https://www.digitalconcerthall.com/de/concert/51855
Dieser Text steht unter CC-0 und darf frei geteilt und modifiziert werden.
Erschienen am 14.04.2020
Aktualisiert am 08.01.2021