Kirche und Diakonie müssen auf existenzielle Erschütterungen reagieren
Rückblick auf Online-Fachgespräch zur Corona-Krise
Eine „Infodemie“, ein Übermaß an Informationen, konstatiert Annegret Wolf im Blick auf die Corona-Pandemie. Daraus folge: „Wir wissen nicht, wie wir handeln sollen; das Risiko wird über- oder unterschätzt. So entstehen etwa Verschwörungserzählungen“, so die Psychologin von der Universität Halle.
In ihrem Impuls beim Online-Fachgespräch „Die Corona-krise und ihre sozialpsychologischen Dynamiken“ am 7. Oktober beleuchtete Wolf die psychischen Auswirkungen der Corona-Pandemie. Die Risiken für die psychische Gesundheit seien „nicht zu unterschätzen“, unterstrich sie. Sorgen um die Gesundheit, Existenzängste, Kontrollverlust und die Reduzierung von sozialen Kontakten bedeuteten eine Stresssituation (die chronisch werden könne) und eine große mentale Belastung für viele. In Deutschland wiesen erste Befunde auf den Anstieg schwerer Symptombelastungen hin, zum Beispiel bei Depressionen. Besondere Risikogruppen seien psychisch Vorerkrankte, aber auch junge Menschen, Frauen (die zu Hause Kinder betreuen und arbeiten müssten) und Menschen mit einem schwachen sozialen Netzwerk. Aber auch Pflegepersonal sei stark betroffen, betonte die Psychologin. Sie warnte vor einer „dritten Welle“: einer Welle der psychischen Erkrankungen.
Von Kirche und Diakonie erwarte sie eine „besondere Sensibilität für Risikogruppen“, sagte Annegret Wolf. Viele Angebote etwa auf Gemeindeebene hält die Psychologin für „unglaublich kreativ“. Sie äußerte sich zuversichtlich, dass Online-Angebote, zum Beispiel im Bereich der Seelsorge, eine vergleichbare Qualität und die gleichen Effekte haben können wie solche mit physischer Anwesenheit.
Spiritualität, das wurde im Rahmen der Veranstaltung mehrfach deutlich, spielt eine große Rolle bei der Bewältigung der besonderen Stresssituationen, die mit der Pandemie einhergehen. Annegret Wolf wies auf eine Studie hin, der zufolge Menschen muslimischen Glaubens sich im Vergleich zu Christinnen und Christen in der Zeit des Lockdowns vermehrt der Spiritualität gewidmet hätten, um mit der Situation umzugehen. „Das hat psychische Belastungen abgepuffert.“
Mohammad Imran Sagir, Geschäftsführer des muslimischen Seelsorge-Telefons, konnte diesen Befund aus seinen praktischen Erfahrungen heraus bestätigen. Er habe in den Hochzeiten des Lockdown vergleichsweise wenige Anrufe mit explizitem Corona-Bezug festgestellt. Sein Eindruck sei, dass viele Muslime „gelassen“ mit der Ausnahmesituation umgegangen seien. („Das hat viel mit Gottvertrauen zu tun.“)
Einen Blick auf die Geschichte des Umgangs mit Seuchen warf der Medizinhistoriker Prof. Philipp Osten, Direktor des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin im Universitätsklinikum Hamburg. Er machte deutlich, dass vergangene Pandemien oft Fortschritte im Gesundheits- und Sozialbereich zur Folge gehabt haben. So habe die Pest vielerorts das Gesundheitssystem umgestaltet bzw. begründet. Der Pass beispielsweise sei eine Erfindung der Stadt Venedig als Reaktion auf die Pest; entsprechende Stempel machten deutlich, wo sich Reisende zuvor aufgehalten hätten.
Kirche und Diakonie müssten sich verstärkt dem Kernbereich von Religion zuwenden und auf existenzielle Erschütterungen von Menschen reagieren. Von dieser Perspektive waren die Voten der Abschlussdiskussion zur Rolle von Kirche und Diakonie in der Pandemie geprägt. Cornelia Coenen-Marx, ehemalige OKR, Pastorin und Autorin, Anne Heimendahl, Landespfarrerin für Krankenhausseelsorge der EKBO, Konrad Müller, Leiter des Freiwilligenzentrums der EKBO und Dr. Stephan Schaede, Direktor der Evangelischen Akademie Loccum verdeutlichten, auf welch kreative Weise Kirche und Diakonie im Sozialraum aktiv sind und waren. Dies biete viele Chancen, mit einem veränderten Blick auf die Arbeit aus der Krise hervorzugehen. Dass Diakonie und Kirche in ihrer Präsenz und Verantwortung insbesondere für vulnerable Gruppen gefragt sind, werde am Beispiel der Besuchsverbote und -einschränkungen in Pflegeeinrichtungen sehr deutlich. Zur Sorge für Menschen in existentiellen Ausnahmesituationen gehöre neben der körperlichen Dimension auch die psychische, soziale und spirituelle. Notwendig sei das Ringen um differenzierte Besuchslösungen und das Aufrechterhalten seelsorglichen Beistands in einer guten Balance zwischen Gesundheitsschutz und menschlicher Nähe.
Nicht nur für viele alte und pflegebedürftige Menschen sei die Hoffnungsbotschaft von Kirche und Diakonie in der Corona-Krise hochrelevant. Trotz des großen praktischen Engagements in etlichen kirchlichen und diakonischen Arbeitsfeldern werde sie mancherorts vermisst. Die Wirklichkeit aus einer anderen Perspektive zu deuten und die Rückbindung der Welt an Gott zu vergegenwärtigen, werde für die Zukunft von Kirche und Diakonie zentral sein.
Erschienen am 28.10.2020
Aktualisiert am 08.01.2021