„Ich wünsche mir mehr Ambivalenzbewusstsein“
Interview mit Paul Nolte
Momente des zivilen Ungehorsams sollten auch in einer Situation wie der derzeitigen nicht fehlen, fordert Professor Paul Nolte. „Corona darf uns nicht zur Obsession mit einem totalisierenden Charakter werden“, warnt der Berliner Historiker im Interview mit dem epd. Auch die Kirchen seien hier gefordert.
Es sei richtig, dem Kurs der Bundesregierung loyal zu folgen, „weil es eben nicht die Maßnahmen einer Diktatur sind“, betont der Präsident der Akademie. Gleichwohl wünsche er sich „mehr Ambivalenzbewusstsein statt solidarischem Konformismus“. „Wir müssen dafür sorgen, dass solche Maßnahmen strikt befristet, dass Alternativen diskussionsfähig bleiben und kritische Fragen nach den Kosten gestellt werden.“
Mehr Engagement in diese Richtung erwartet Nolte ausdrücklich auch von den Kirchen. „Der Geist der Freiheit muss spürbar bleiben.“ Die Kirche müsse aber auch ihre Binnensituation kritisch beleuchten, unterstreicht er. Corona könne schon bestehende Schwächen massiv verstärken. „Kommen die Menschen danach in die Gottesdienste zurück?“ Nolte befürchtet eine neue Austrittswelle.
Nach der Corona-Krise werde unsere Gesellschaft „in einer anderen Ordnung aufwachen“, ist der Historiker überzeugt. Wirtschaftlich wie gesellschaftlich seien schon jetzt viele Brüche erkennbar. „Vom Einkaufen über Kultur- und Sportevents bis zu Reisen: das wird auf Jahre hinaus nicht mehr, wie es war.“ Eine deutliche Konzentration auf Gesundheitsfragen erwartet Paul Nolte für die nächsten zehn Jahre. „Dass das dann auch eine gesündere Gesellschaft ist, bleibt zu hoffen.“
Erschienen am 09.04.2020
Aktualisiert am 15.04.2020