Das Leben nochmal anfangen
Adventsblog „Geburt und Anfang“ │ Ahmed Al-Sadoon
Als Ahmed Al-Sadoon als Geflüchteter nach Deutschland kam, fragte er sich, was von seiner Identität er wohl aufgeben müsse, um hier akzeptiert zu werden. Durch engagierte Ehrenamtliche fand er einen Freundeskreis und seinen Platz in der Gesellschaft. Er würde sich wünschen, solche „Patenschaften“ zu institutionalisieren.
Man braucht viel Glück, um es bis nach Deutschland zu schaffen. Ich hatte gemischte Gefühle, als ich hier ankam. Einerseits war ich glücklich, dass ich unversehrt angekommen war. Andererseits fühlte ich mich traurig, weil meine Familie, Freunde und alle Menschen, die noch im Irak waren, weiter in Gefahr lebten. Ich musste das gleichzeitig hinkriegen: diese Gefühle aushalten und ein neues Leben anfangen, um schnellstmöglich auf eigenen Füßen zu stehen.
Es war mir bewusst, dass das Leben in Deutschland anders ist – die Kultur, wie die Gesellschaft funktioniert, die Sprache. Meine Gedanken drehten sich wie ein Wirbelsturm um mich; ich dachte an meine Probleme, meinen weiteren Weg. Um daraus auszubrechen, nahm ich mir vor, zunächst das Leben hier in Deutschland zu verstehen und zu entdecken. Ich wollte für mich herausfinden, welche Unterschiede es gibt und was ich dazugewinne, was hier so ist wie im Irak und wo ich mich verändern muss. Ich fragte mich, was von mir, von meiner Identität ich wohl wegwerfen müsste, um hier akzeptiert zu werden.
In dieser Situation wünschte ich mir Menschen um mich, die mich dabei unterstützen würden meinen Weg zu finden und die ersten Schritte auf diesem meinen Weg in Deutschland zu gehen. Und dann traf ich die Helden meines neuen Lebens: die Ehrenamtlichen. Sie haben mir mit allem Erdenklichen geholfen. Sie haben mir Zeit geschenkt, ich durfte Alltag mit ihnen erleben und Feste mit ihnen feiern. Sie haben mir die ersten Worte Deutsch beigebracht, mir einen Sprachkurs vermittelt. Auch meine erste Wohnung konnte ich durch diese Kontakte beziehen, meinen ersten und auch den jetzigen Job hätte ich ohne sie nicht gefunden.
Einen ganz großen Teil meines jetzigen Lebens habe ich meiner „Patentante“ Bärbel zu verdanken, die mit ihrem Mann in Bokel lebt, einem Nachbardorf von Nortorf, meinem ersten Wohnort in Deutschland. Die beiden betreiben das Zirkuswagenhostel "Ulliwood". Durch sie wurde ich herzlich aufgenommen und integriert, ich fand in ihren Kreisen viele Freunde und später die Liebe meines Lebens, mit der ich heute verheiratet bin.
Je mehr ich mich als ein Teil der Gesellschaft fühlte, desto mehr fing ich an, mich in Deutschland wohl zu fühlen. Irgendwann merkte ich: Ich muss sehr wenig von dem wegwerfen, was mich ausmacht – eigentlich gar nichts. Danke an alle Ehrenamtlichen, die nicht nur mir, sondern auch vielen anderen geholfen haben!
Unterstützer*innen wie Bärbel helfen gerne und aus vollem Herzen und lassen Menschen wie mich in ihr Leben. Ich fände es gut, wenn Frauen und Männer wie sie in Zukunft eine Art offizielle Patenschaft für einzelne Menschen übernehmen dürften, die auch noch aus ihrer Heimat fliehen wollen. Kanada nimmt über solche “Community Sponsorships” schon rund 20.000 Menschen pro Jahr auf – und wenn die dort ankommen, haben sie sofort einen Freundeskreis, wie ich ihn mir hier aufbauen konnte. Vielleicht wäre das ja eine Idee für die nächste Bundesregierung.
Ahmed Al-Sadoon (40) lebt in Schleswig-Holstein und arbeitet als Software-Tester. Er kam 2015 aus dem Irak nach Deutschland. Für den Dokumentarfilm „Wir sind jetzt hier“ hat er Ronja von Wurmb-Seibel und Niklas Schenck die Geschichte seines Ankommens erzählt. Am 8. Dezember lädt die Akademie zu einer Vorführung der Dokumentation und einem Filmgespräch mit Mitwirkenden und Expert*innen ein.
Erschienen am 02.12.2021
Aktualisiert am 21.12.2021