Der Nikolaus - ein anatolischer Einwanderer
Adventsblog „Geburt und Anfang“ │ Leyla Jagiella
Wo nahm der heutige Nikolausglaube seinen Anfang? Die Religionswissenschaftlerin Leyla Jagiella zeigt auf, dass „unser“ Nikolaus eine perfekte Mischung ist: aus Orientalischem und Europäischem, aus christlichen Einflüssen und den Traditionen anderer Religionen, aus Eingewandertem und Alteingesessenem.
Seit einigen Jahren tauchen in den sozialen Medien Meme auf, die daran erinnern wollen, dass der Nikolaus eigentlich „ein Türke“ gewesen sei. Eine Behauptung, die freilich auf einer groben Vereinfachung beruht, denn zu jener Zeit, als der historische Nikolaus lebte (im 4. Jahrhundert n. Chr.), gab es natürlich noch gar keine Türk*innen in Anatolien. Nach allem, was wir wissen, dürfte der Nikolaus sich selbst wahrscheinlich als „Kappadokier“, vielleicht auch als „Asiate“ bezeichnet haben, und seine Muttersprache dürfte das Griechische gewesen sein. Aber, und soweit haben die Meme recht: Ein Anatolier war der Nikolaus allemal. Und sollte seine Familie heute noch irgendwelche Nachkommen haben (er selbst lebte wohl zölibatär, aber vielleicht hatte er ja Nichten oder Neffen), dann ist es tatsächlich gut möglich, dass einige davon heute Türkisch sprechen. Andere vielleicht Griechisch, Kurdisch, Zaza oder Armenisch. Denn über Jahrhunderte sind sich in Anatolien Religionen, Kulturen und Ethnien begegnet und haben sich vermischt.
Nach Deutschland wanderte der anatolische Nikolaus tatsächlich erst recht spät ein, und auch dann erst Dank der Begegnung und Vermischung verschiedener Kulturen. Es war vor allem die Kaiserin Theophanu, die den Kult des asiatischen Heiligen in Mitteleuropa populär machte. Diese Prinzessin aus dem heutigen Istanbul heiratete im Jahr 972 Otto II., den deutschen Kaiser des Heiligen Römischen Reiches. Theophanu wuchs als griechisch-byzantinische Edelfrau in Konstantinopel auf, ihre Familie war jedoch vermutlich armenischer Herkunft und stand immer wieder sowohl in byzantinisch-christlichen wie arabisch-muslimischen Diensten. Diese junge Frau an der Grenze zwischen Abend- und Morgenland brachte eine Menge orientalischer Sitten nach Deutschland, die uns bis heute lieb sind. Den Gebrauch der Gabel etwa. Und eben auch den Nikolauskult.
Gleichzeitig ist der Kult des Nikolaus‘ natürlich längst nicht aus dem Orient verschwunden. Insbesondere in der Griechisch-Orthodoxen Kirche und in den Orientalischen Ostkirchen ist er bis heute einer der beliebtesten Heiligen. Diese Beliebtheit hat auch auf die Glaubenspraxis von Muslim*innen abgefärbt, denn insbesondere im Osmanischen Reich lebten in vielen Gegenden griechisch-orthodoxe und orientalisch-orthodoxe Christ*innen, Jüd*innen und Muslim*innen neben- und miteinander und nahmen Anteil an den religiösen Festen der jeweils anderen. Auch wenn manche heutige Muslim*innen sich dabei unwohl fühlen, so war es über die Geschichte hinweg gar nichts Ungewöhnliches, dass immer wieder vor-islamische christliche Heilige auch in die muslimische Glaubenspraxis integriert wurden.
In einigen Teilen des Osmanischen Reiches war zudem lange die Legende verbreitet, der muslimische Heilige Sarı Saltuk hätte einst den Heiligen Nikolaus in einem übernatürlichen Wettstreit bezwungen und danach dessen Gestalt angenommen. In Anlehnung an diese Legende gibt es insbesondere in Südosteuropa viele volkstümliche Pilgerorte, an denen Christ*innen den Heiligen Nikolaus, Muslim*innen jedoch den Heiligen Sarı Saltuk verehren, beide aber als die gleiche Person verstanden werden. An solchen Orten ist es bis heute nichts Ungewöhnliches, Ikonen des Heiligen Nikolaus neben Korankalligraphien hängen zu sehen. In der Vergangenheit gab es solche Orte auch Mitteleuropa. Der osmanische Reiseschriftsteller Evliyâ Çelebi berichtet etwa im 17. Jahrhundert, dass die tatarischen Muslim*innen in Polen glauben würden, die Nikolauskirche in Danzig würde das Grab des Sarı Saltuk beherbergen.
Daneben kennt der Volksglaube in vielen mehrheitlich muslimischen Regionen dem Nikolaus ähnliche Gestalten, alte Männer mit langen weißen Bärten, die die Menschen inmitten des Winters mit Gaben überraschen. In einigen Gegenden Ost-Anatoliens ist es Hızır, der auf einem weißen Schimmel durch den Schnee reitet. Bei den Muslim*innen in Tatarstan und in Baschkirien ist es Qis Babay, der dem russischen Väterchen Frost ähnelt. In Hawraman im iranischen Kurdistan Pir Shalyar, der im kalten Februar erscheint.
Historisch-kritische Forscher*innen gehen übrigens davon aus, dass viele der heutigen Legenden um den Heiligen Nikolaus gar nicht auf den historischen Nikolaus zurückgehen, sondern auf den vor-christlichen Philosophen und Wundertäter Appollonius von Tyana. Auch dieser war, zumindest in der Vergangenheit, vielen Muslim*innen gut bekannt. Nicht so sehr im Volksglauben, aber in der naturwissenschaftlichen und philosophischen Literatur. Andere Elemente im deutschen Nikolausglauben mögen wiederum auf vorchristliche germanische oder keltische Vorstellungen zurückgehen und damit tatsächlich schon sehr alte „abendländische“ Wurzeln haben.
So ist unser Nikolaus heute, wie so vieles andere auch im deutschen Advents-, Weihnachts- und Winterbrauchtum, tatsächlich eine perfekte Mischung aus Orientalischem und Europäischen, aus Christlichem und Nicht-Christlichem, aus Eingewandertem und Alteingesessenem. Der Nikolaus ist zwar kein Türke. Aber er steht bestens für die vielfältige Gesellschaft, in der wir leben.
Leyla Jagiella ist Kulturanthropologin und Religionswissenschaftlerin. Sie ist Fachreferentin für Geschlecht und Sexualität im Islam und Projektkoordinatorin der Jüdisch-Muslimischen Kulturtage Heidelberg. Als Redaktionsmitglied engagiert sie sich für das medienkritische Online-Journal BLIQ. Ihr Buch „Among the Eunuchs. A Muslim Transgender Journey“ ist dieses Jahr im Hurst Verlag London erschienen.
Erschienen am 06.12.2021
Aktualisiert am 15.12.2021