Die Nacht der Entbindung
Adventsblog „Geburt und Anfang“ │ Christina-Maria Bammel
In seiner Erzählung der Weihnachtsgeschichte verzichtet der Evangelist Lukas auf Details zu den Nachtstunden der Entbindung. Sie bleibt eingebunden in Gottes großes Geheimnis. Eine Theologie der Entbindung müsste ernstnehmen, dass Menschen vieles von vielem entbinden können – und dass der Begriff im alten Sprachgebrauch auch auf den Tod als „Entbindung“ vom Leben bezogen wurde.
Heilig die Nacht der Geburt. Auch wer sich selbst nicht als religiös bezeichnet, lässt sich anrühren von dieser heiligen Entbindungsnacht, weil alle menschlichen Geschöpfe erkennen und ahnen: Zum Geborenwerden gehört das voneinander Entbundenwerden. Und damit das Neuwerden – zusammen, verbunden, um dann getrennt zu werden.
Wir sind Entbundene. Wir bleiben Entbundene. Wir kommen aus einer Höhle, in der es für eine kleine Weile eine Einheit gibt von Mutter und Kind. Es ist ein Zustand, in dem doch für eine Weile zwei kaum zu unterscheiden sind. Ineinander verbunden und verwunden zwei Wesen ohne jede Unabhängigkeit. Subjektivität von werdender Mutter und Embryo denkt sich völlig anders als alle anderen Subjektivitätsannahmen dieser Welt. Wer mag das begreifen?
Der Evangelist Lukas verzichtet auf erzählte Details zu den Nachtstunden der Entbindung unter denkbar schlechten und skandalösen Voraussetzungen. Es wäre eigentlich zum Kopf in das Stroh stecken, zum Heulen und zum Verzweifeln in allem Chaos und in allem, was fehlt. Aber Lukas bleibt dabei: Die schwarze Nacht wird zur geheimnisvollen Nacht der Freude. Da können die Umstände noch so lausig sein. Wer sich schon einmal Stunde für Stunde durch die Nacht gewartet hat in Erwartung des neuen kleinen Lebens, zwischen Herztönen und Wehen, kennt vielleicht die seltsamen Wege, die die Gedanken in solchen Augenblicken gehen können. Wie schmal der Grat zwischen Leben und Tod ist, zwischen Loslassen und Empfangen. Und dann wird der gekappten Verbindung nach neun Monaten eine neue Verbindung folgen. Kann und wird das gutgehen?
Vielleicht fragt sich das die junge Frau Maria auch, als neben ihr das Kind liegt, dargestellt auf einem siebenarmigen Leuchter aus Frankfurt (Oder), ehemals Stadtpfarrkirche St. Marien, heute St. Gertraud. Auf diesem Leuchter aus dem 14. Jahrhundert ist eine Geburtsszene in byzantinischer Tradition zu sehen. Maria liegt im Bett und hält das gewickelte Kind liebevoll im Arm. Maria – die Wöchnerin. Ganz in Gold und Licht, bewacht von kräftig-tapferen Engeln und liebevoll beäugt von Esel und Ochs. Als wollten sie sagen: Diese Entbindung war wunderbar, weil sie eingebunden bleibt in Gottes großes Geheimnis. Der lange Arm der Maria hält all das umschlossen.
Wenn Lukas Lust an einer Theologie der Entbindung gehabt haben sollte, hat er eine beachtliche Vorarbeit dafür geleistet. Eine solche Theologie der Entbindung nimmt ernst, dass Menschen vieles von vielem entbinden können – den Esel von der Strickhalterung, den Gefangenen von der Kette. Schuhe, Gürtel, Haar können entbunden werden, ebenso der Brief, der am Stein durch das Fenster geflogen kommt oder die Seele, wenn sie sich vom Leib löst. Entbindung wurde in den Überlieferungen nicht nur bezogen auf den Beginn des Lebens, sondern auch auf sein Ende, wenn etwa der Mensch vom Leben entbunden wird. So wie die Windeln Anfang und Ende des Jesuskindes zusammen binden, Anfang und Tod, so könnte eine Theologie der Entbindung berücksichtigen und umfassen, dass das Kommen und Gehen ein Binden und Lösen bedeutet.
Eine Theologie der Entbindung könnte einbinden, dass noch zu Beginn des 15. Jahrhunderts Entbindung im Sinne der allgemeinen Bedeutung von Befreiung gesprochen wurde und eine Art Freisprechung meinte. Mit dem 17. Jahrhundert verband sich die Entbindung immer stärker mit der Geburt, wobei das Verb „entbinden“ selbst schon wesentlich länger auf den Vorgang der Geburt bezogen worden ist. Jeder Entbindung liegt ein schmerzhaft-schwellenartiges Freiheitsmoment inne. Ein Losmachen, ein Freiwerden, ein Lösen. So auch die Entbindung von Mutter und Kind. Unumkehrbar, was einmal durchtrennt ist.
Die in Gold getauchte Maria im Wöchnerinnenbett lässt mich glauben, Gott selbst geht schwanger mit dieser Welt. Beide verbunden über die vielleicht nur mystisch zu erfassende Nabelschnur. Es gibt Nächte, da scheint die gesamte Schöpfung noch nicht entbunden, sondern genährt und versorgt von dieser ewigen Nabelschnur. Und es gibt das Aufklaren des Lichtes, in dem wir erkennen: Gott hat seine Schöpfung entbunden in eine Welt hinein, die ihrerseits löst und bindet, verwirft und sich immer wieder neu entwirft. Und zwischendrin jene verletzliche, sterbliche Menschlichkeit mit Licht- und Schattenseiten. Die von Gott Entbundenen, aber noch nicht völlig Losgebundenen, sondern Gott sei Dank bleibend mit Gott Verbundenen. Der Blick auf das kleine entbundene jüdische Kind aus Betlehem löst und erlöst. Wenn auch erst der Anfang gemacht ist. Die Nacht wird zur Nacht der Nächte, in der wir alle überheblichen Ideen von radikaler Autonomie und Unangewiesenheit ablegen und aufgeben, uns losbinden von dem, was wir für vermeintlich normal halten, in der wir neuen Mut fassen, der Leidenschaft des Herzens trauen und an das neue Leben in Liebe glauben. Bedingungslos.
Die in Gold getauchte Maria im Wöchnerinnenbett lässt mich glauben, Gott selbst geht schwanger mit dieser Welt. Beide verbunden über die vielleicht nur mystisch zu erfassende Nabelschnur. Es gibt Nächte, da scheint die gesamte Schöpfung noch nicht entbunden, sondern genährt und versorgt von dieser ewigen Nabelschnur. Und es gibt das Aufklaren des Lichtes, in dem wir erkennen: Gott hat seine Schöpfung entbunden in eine Welt hinein, die ihrerseits löst und bindet, verwirft und sich immer wieder neu entwirft. Und zwischendrin jene verletzliche, sterbliche Menschlichkeit mit Licht- und Schattenseiten. Die von Gott Entbundenen, aber noch nicht völlig Losgebundenen, sondern Gott sei Dank bleibend mit Gott Verbundenen. Der Blick auf das kleine entbundene jüdische Kind aus Betlehem löst und erlöst. Wenn auch erst der Anfang gemacht ist. Die Nacht wird zur Nacht der Nächte, in der wir alle überheblichen Ideen von radikaler Autonomie und Unangewiesenheit ablegen und aufgeben, uns losbinden von dem, was wir für vermeintlich normal halten, in der wir neuen Mut fassen, der Leidenschaft des Herzens trauen und an das neue Leben in Liebe glauben. Bedingungslos.
Klingt nach goldener Soße über gesammeltem Weihnachtsglück. Dafür hätte der Evangelist Lukas nichts übrig gehabt. Glück und Schmerz der Maria auf dem Wöchnerinnenbett zeigen uns, wie viel Verwundbarkeit in jeder Geburt, in jeder Gebärenden, in jeder Entbindung liegt. Nichts ist schützenswerter. Weitere Entbundene werden auch in dieser Nacht erwartet. Mögen sie in Bindung und Liebe, in Freiheit und Freiraum dem Leben ihres Schöpfers entsprechen und mögen sie mit Haut, Haar, Leib und Seele nicht vergessen, dass sie aus einer mystischen Verbindung stammen, die nicht aufhört zu sein.
Christina-Maria Bammel ist Pröpstin der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz.
Erschienen am 24.12.2021
Aktualisiert am 24.12.2021