Ein guter Start ins Leben
Adventsblog „Geburt und Anfang“ │ Teresa Bücker
Ein ganzheitlicher Blick auf Geburten, der über ein medizinisches Verständnis hinausgeht, ist der Gesundheitspolitik in Deutschland abhandengekommen, schreibt die Journalistin Teresa Bücker. Die Innovation, die in der Geburtshilfe nötig sei, laute schlicht: mehr Zeit.
Seit Beginn der Covid-19-Pandemie hat sich die Situation für werdende Eltern in Deutschland noch einmal verschlechtert. Zum lange bestehenden Hebammenmangel kam hinzu, dass auch Hebammen aufgrund von geschlossenen Kitas und Schulen beruflich eingeschränkt waren. Schwangere durften ihre Partner*innen nicht mehr mit zu Vorsorgeuntersuchungen nehmen oder mussten ihr Kind sogar allein im Kreißsaal bekommen, weil ihre Vertrauensperson erst spät oder gar nicht dabei sein durfte. Viele Geburtstraumata sind in den vergangenen eineinhalb Jahren deshalb entstanden, weil Gebärende alleingelassen wurden.
Sie wären vermeidbar gewesen. Denn Expert*innen und die Weltgesundheitsorganisation (WHO) haben immer wieder betont, dass bei der Geburt Unterstützung durch vertraute Personen gesundheitlich essenziell sei. Insbesondere dort, wo Hebammenmangel herrscht, begleiten oft Partner*innen große Teile einer Geburt, sprechen Mut zu und unterstützen bei Schmerzen. Begleitpersonen auszuschließen, nimmt Gebärenden ein Stück Sicherheit. Das Gleiche geschieht, wenn Hebammen mehrere Geburten gleichzeitig betreuen müssen, wie es in deutschen Kliniken Alltag ist. Ein ganzheitlicher Blick auf Geburten, der über ein medizinisches Verständnis hinausgeht, ist der Gesundheitspolitik in Deutschland abhandengekommen.
Elterninitiativen und Hebammen fordern schon seit vielen Jahren, dass eine Eins-zu-eins-Betreuung in der Geburtshilfe Standard wird. Denn eine kontinuierliche Begleitung macht Geburten nachweislich sicherer und trägt zu positiven Geburtserfahrungen bei. Die Psychologin Lisa Hoffmann hat zur Hebammenbetreuung unter der Geburt geforscht und herausgefunden, dass Geburtserlebnisse kurz- und längerfristig das psychische Wohlbefinden von Frauen beeinflussen. Frauen mit negativem Geburtserlebnis hätten öfter Stillprobleme und litten nach der Geburt mit höherer Wahrscheinlichkeit unter Depressionen. Auch kann ihre Bindung zum Baby beeinträchtigt sein, die so wichtig ist, damit sich Kinder gut entwickeln. Ebenso kann eine Partnerschaft durch eine schwierige Geburt und ihre Folgen stark belastet werden.
Eltern mit traumatischen Geburtserlebnissen zögern zudem häufiger, weitere Kinder zu bekommen, wie Forschungsdaten zeigen. Dazu passt etwas, das eine Frau mir kürzlich über ihre zweite Schwangerschaft erzählte: „Ich hätte die Schwangerschaft wohl abgebrochen, hätte ich für dieses Mal keine Beleghebamme gefunden. Ich weiß nicht, ob die Hebammen mich letztlich nur in Betreuung genommen haben, weil ich am Telefon verzweifelt geweint habe.“ Die erneute Schwangerschaft belebte das Trauma wieder, das diese Frau nach einer Geburtseinleitung mit einem umstrittenen Wehenmittel erlitten hatte. Nachdem die Herztöne des Babys abfielen, musste schließlich ein Notkaiserschnitt vorgenommen werden. Dass schwierige Geburten im Nachgang psychologisch aufgearbeitet werden, ist bislang kein Standard. Die Frauen müssen selbst die Kraft aufbringen, sich um Therapien zu kümmern – und oft Monate warten, bevor sie einen Platz bekommen.
Ein für das Bundesgesundheitsministerium erstelltes Gutachten zur Vermeidung von Geburtsschäden bezeichnet den Personalmangel als „großes Sicherheitsrisiko“. Denn nicht nur kann das Personal dadurch kritische Momente im Geburtsverlauf verpassen. Der Hebammenmangel übersetzt sich in den Kreißsälen oft in Zeitdruck, der Geburten stören kann und traumatische Erfahrungen begünstigt. Als Grund für die hohe Kaiserschnittrate in Deutschland, die weit über dem Wert liegt, den die WHO als normal betrachtet, gilt unter anderem die zu geringe Zahl von Hebammen pro Klinikschicht.
Die Gesundheitssystemanalytikerin Alexandra Bruns nennt als ein Qualitätsmerkmal für die Geburtshilfe, „dass eine Frau bei der Geburt die Zeit bekommt, die sie benötigt“. Die hohe Anzahl von Geburtseinleitungen, Interventionen und Kaiserschnitten könnte durch mehr Hebammen reduziert werden. Die medizinische Innovation, die die Geburtshilfe braucht, lautet schlicht: mehr Zeit.
Hätte die Gesundheitspolitik die Forderung nach einer Eins-zu-eins-Betreuung durch Hebammen bei der Geburt bereits vor Pandemiebeginn umgesetzt, wäre es vielen Familien in den Kreißsälen besser ergangen. Doch politisch hat sich lange nichts bewegt. Die Situation in der Geburtshilfe hat sich in den vergangenen Jahren sogar verschlechtert. Geburtsstationen werden geschlossen, finden kein Personal, viele Schwangere bleiben ohne Hebamme für Vorsorge und Wochenbettbetreuung.
Im Koalitionsvertrag der sich gerade formierenden Ampelkoalition ist die Eins-zu-Eins-Betreuung nun endlich als Vorhaben vereinbart und darüber hinaus das nationale Gesundheitsziel „Gesundheit rund um die Geburt“ festgeschrieben, das vielfältige Maßnahmen möglich macht.
Wie schnell es gelingen wird, die Versorgung von werdenden und frischgebackenen Eltern zu verbessern, hängt auch von den Arbeitsbedingungen und Gehältern für Hebammen ab. Denn der Hebammenmangel geht nicht darauf zurück, dass es zu wenige ausgebildete Geburtshelfer*innen in Deutschland gäbe. Zu viele haben ihren Beruf aufgegeben oder die Stunden reduziert, weil sie von den geringen Fallpauschalen nicht leben können – oder um gegen das Kaputtsparen der Geburtshilfe zu protestieren. Damit sie zurückkommen, braucht die Geburtshilfe in den Kliniken einen echten Kulturwandel, der wieder die Frauen und Babys in den Mittelpunkt stellt statt die Profite.
Eine Geburt ist ein seltenes, intensives Lebensereignis, körperlich wie emotional überwältigend, das mit kaum etwas anderem vergleichbar ist. „Jede Geburt bringt eine veränderte Frau zur Welt, und es ist unsere gesellschaftliche Verantwortung, dass diese Veränderung eine gute ist“, schreibt die bekannte Familienexpertin Nora Imlau. Geburten sind kein isoliertes Ereignis. Sie wirken nach. Positive Geburtserlebnisse können Familien von Anfang an stärken. Familienfreundlichkeit zeigt sich nicht erst an guten Kindergärten und Schulen, sondern bereits zu Beginn des Lebens. Eine hervorragende Geburtshilfe ist ein wichtiger Ausgangspunkt für starke Kinder und stabile Familien. Sie ist Baustein einer guten Zukunft.
Teresa Bücker ist freie Journalistin, Moderatorin und Beraterin. Als Journalistin arbeitet sie unter anderem für das Süddeutsche Zeitung Magazin, den Newsletter Zwischenzeit_en und rbb24 zu gesellschaftspolitischen Fragen der Gegenwart und Zukunft.
Erschienen am 30.11.2021
Aktualisiert am 15.12.2021