Geburt und Vergebung: das Wunder des Neuanfangs

Geburt und Vergebung: Das Wunder des Neuanfangs

Adventsblog „Geburt und Anfang“ │ Katharina von Kellenbach

© bigb0ss / photocase.de

Weihnachten und Schöpfung - Geburt und Anfang - sind in der christlichen Tradition eng mit der Symbolik des Lichts verbunden. Auch auf den Fotos zu unserem Adventsblog steht das Licht im Mittelpunkt.

Hannah Arendts Begriff der Natalität – des Geborenseins als Grundbedingung menschlicher Existenz – eröffnet einen neuen Blick auf die Weihnachtsgeschichte. Die Philosophin verbindet die christliche Lehre von der Vergebung nicht mit Ostern, sondern mit Weihnachten. Ihre Botschaft: Die Zukunft ist offen und kommt im verantwortlichen Handeln der Menschen als „gebürtiger“ Wesen ganz neu in die Welt. 

Weihnachten habe ich lange für ein ziemlich heidnisches Fest gehalten, das vom Fest der Sol Invictus (unbezwingbaren Sonne) von den Römern übernommen wurde, nachdem die Kirche zur römischen Staatsreligion erklärt wurde. In Weihnachten verchristlicht sich die Wintersonnenwende und vereinnahmt nordeuropäische Gebräuche rund um geschmückte Bäume und brennende Kerzen.

Die neutestamentlichen Schriften vermerken kein Geburtsdatum für Jesus, und die schriftzentrierten Reformatoren schafften die Marienverehrung ab, um sich ganz auf die Kreuzestheologie zu konzentrieren. Die christliche Erlösung wurde theologisch, gerade in der protestantischen Theologie, vornehmlich von Ostern her reflektiert. Daneben verblasst Weihnachten zu einem schönen Familienfest, an dem sich Kinder zu Krippenspielen unter dem Weihnachtsbaum versammeln.  

Erst beim Lesen von Hannah Arendt wurde mir klar, dass die Weihnachtsgeschichte auch als eine jüdisch grundierte Heilsbotschaft gelesen werden kann:  

Dass man in der Welt vertrauen haben und dass man für die Welt hoffen darf, ist vielleicht nirgends knapper und schöner ausgedrückt als in den Worten, mit denen die Weihnachtsoratorien die „Frohe Botschaft“ verkünden: „Uns ist ein Kind geboren.“
(Hannah Arendt, Vita Activa oder Vom tätigen Leben, München: Piper Verlag 2020, S. 353)

Hannah Arendt hat in ihrem 1958 veröffentlichten Buch Vita Activa oder Vom tätigen Leben erstmals den Begriff der Natalität (verdeutscht: „Gebürtigkeit“) in die Philosophie eingeführt. Dabei merkte sie kritisch an, dass die meisten Philosophen der westlichen Tradition sich mehr mit Sterblichkeit und dem „Sein zum Tode“ (Heidegger) als mit dem Geborensein als Grundbedingung menschlicher Existenz beschäftigt haben. Arendt war keine Feministin und hat nicht gefragt, warum eine männlich dominierte Philosophie und Theologie nur sehr ungern über ihre Abhängigkeit vom mütterlichen Körper nachdenken wollte. In Vita Activa geht es Arendt vornehmlich darum, eine Theorie des Handelns zu entwickeln:  

Der Neubeginn, der mit jeder Geburt in die Welt kommt, kann sich in der Welt nur darum zur Geltung bringen, weil dem Neuankömmling die Fähigkeit zukommt, selbst einen neuen Anfang zu machen, d.h. zu handeln. Im Sinne von Initiative - ein Initium setzen - steckt ein Element von Handeln in allen menschlichen Tätigkeiten, was nichts anderes besagt, als dass diese Tätigkeiten eben von Wesen geübt werden, die durch Geburt zur Welt gekommen sind und unter der Bedingung der Natalität stehen. (S. 25)

Arendt verbindet die christliche Lehre von der Vergebung nicht mit Ostern, sondern mit Weihnachten. Während im Zentrum der Passionsgeschichte der leidende Heiland steht, dessen Opfertod „der Sünde Sold“ begleicht und die Erlösung von Sünde und Tod erwirkt, sieht Arendt „das Wunder, das den Lauf der Welt und den Gang menschlicher Dinge immer wieder unterbricht und von dem Verderben rettet“, in der weihnachtlichen Geburtsgeschichte (Vita Activa, S. 353). Vergebung und Geburt erlauben einen neuen Anfang, indem sie den ewigen Zirkel von Ursache und Wirkung unterbrechen und die Menschen von den Konsequenzen früherer Handlungen befreien. Ohne Vergebung, so Arendt, wären wir Gefangene der Folgewirkungen einer ersten Handlung. Der Neuanfang ist ein „Wunder“, das „unendlich Unwahrscheinliche“, das „schlechterdings unerwartet und unberechenbar [ist], denn er lässt sich nicht aus dem vorher Gewesenen und Geschehenden berechnen und vorhersagen“. (S. 243)

Dass die Zukunft offen ist und die Menschen frei sind, verantwortlich zu handeln, ist eine Botschaft, die besonders in unserem Zeitalter der Algorithmen und statistisch kalkulierbaren Zukunftsvorhersagen  verteidigt werden muss. Und gerade in diesem Advent 2021, wo sich die Türen nicht nur gegen Kälte und Dunkelheit, sondern auch gegen die Seuche und ihre sozialen, wirtschaftlichen und politischen Konsequenzen verschließen, brauchen wir die weihnachtliche Heilsbotschaft in den Worten von Hannah Arendt: Fürchtet euch nicht, ihr seid „nicht geboren, um zu sterben, sondern im Gegenteil, um etwas Neues anzufangen“  (S. 352).

Katharina von Kellenbach ist Projektreferentin für das Projekt „Bildstörungen: Elemente einer antisemitismuskritischen pädagogischen und theologischen Praxis“

Geburt und Anfang. Ein Adventsblog

„Und sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe.“ So knapp beschreibt der Evangelist Lukas Jesu Geburt. Der Akt der Geburt, ein halber Vers. Dieser halbe Vers hat es allerdings in sich. Denn damit ist alles anders als zuvor. Nun ist der Heiland in der …

Prof. em. Katharina von Kellenbach, PhD

Projektreferentin für „Bildstörungen: Elemente einer antisemitismuskritischen pädagogischen und theologischen Praxis“ (2020 - 2024) [ausgeschieden]

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