Hauptsache
9.4.2021 | Blog | Rolf Martin
In der Passionszeit besuchte ich einen Gottesdienst der Reihe „Heilsame Unterbrechung“. Prälat Martin Dutzmann setzte durch seine Gedanken eine solche „heilsame Unterbrechung“ in meinem Denken in Gang: Im Blick auf die bevorstehende Geburt eines Kindes zitierte er einfühlsame Wünsche anteilnehmender Menschen: „Hauptsache gesund!“ … Doch im Nachdenken über das Kind, das doch einfach in das Leben kommen sollte, formulierten die werdenden Eltern: „Nein! Stimmt nicht! Sondern: „Hauptsache geliebt!“
Diese Unterscheidung begleitete mich durch die Passionszeit und in eine Menge Gespräche. Sie selbst wurde mir zu einer heilsamen Unterbrechung des allgegenwärtigen ÜBER-CORONA-NACHDENKENS…
Hauptsache gesund … das scheint gerade die Maxime zu sein: Hauptsache nicht anstecken, Hauptsache impfen, Hauptsache vorsichtig sein und sichern, was man sichern kann.
Oder die Alternative dazu: Hauptsache gelebt! Wieso soll ich auf mein normales Leben verzichten, nur weil eine Krankheit möglicherweise die Gesundheit von Menschen bedroht. Wenn ich aus lauter Angst versäume zu leben, dann verpasse ich die Hauptsache: das selbstbestimmte Leben.
Hauptsache gesund, Hauptsache gelebt und Hauptsache geliebt.
Ich denke an Karfreitag, Ostern und Pfingsten: Jesus hat sich für „Hauptsache geliebt“ entschieden. Er war bereit, seine Gesundheit zu geben und sein Leben. Und er hat geliebt - bis in den Tod. Ohne Schnickschnack und doppelten Boden ging er in den Tod, weil seine Maxime lautete: Hauptsache geliebt! Er ließ den Tod zu für das richtige Leben. Und der Tod kann passieren, wenn man sich dieser Maxime verschreibt.
Ich denke an Martin Luther, der auf der Suche nach dem gnädigen Gott entdeckte, dass es da nicht viel zu tun gab, außer: sich lieben zu lassen und - als Antwort auf diese Liebe - selber zu lieben. Das allerdings mit allen Konsequenzen und ohne Gewissheit, dass das Leben ein Leichtes wäre.
So ist es wohl. Gottes Liebe gilt seinen Geschöpfen bedingungslos. In einer Welt, in der man für alles bezahlen muss, kann man das kaum noch verstehen. Normalerweise „liebt“ uns wohl niemand bedingungslos. Im Gegenteil ist unser Miteinander oft geprägt durch die Abhängigkeit von einem speziellen „Liebes-Tauschhandel“. Es scheint - zumindest in unserem Konsumumfeld - so zu sein, als würden wir unsere Liebesbedürftigkeit konsolidieren, indem wir uns einen Liebes-Ersatz kaufen.
Klamotten, Elektronik, Essen, Abenteuer. All solche Liebesersatz-Güter kann man unter normalen Umständen kaufen. An diese Sicherheit haben wir uns gewöhnt. Und wenn das nicht mehr geht, geraten wir in die Krise.
Da ist „Hauptsache geliebt!“ schon eine heilsame Unterbrechung und eine Hilfe dabei, zu erkennen, was einerseits grade geschieht und was andererseits stattdessen geschehen sollte: Eine ältere Dame erzählte in einer Gruppe, ihre Enkelin habe ihr das Versprechen abgenommen, dass sie keinesfalls unvorsichtig ihr Haus verlassen würde. Dennoch gehe sie hin und wieder zu Veranstaltungen ihrer Gemeinde. Da würde man sehr vorsichtig miteinander sein. Man müsse sich doch freundschaftlich treffen und begegnen können, was wäre das sonst für ein Leben! Ihrer Enkelin würde sie nichts davon erzählen.
So bewegt sich diese ältere Dame vorsichtig und liebevoll zwischen den Bedenken ihrer Enkelin (Hauptsache gesund) und dem Bedürfnis nach Miteinander (Hauptsache gelebt), ohne dabei zu vergessen, dass es allen Beteiligten gut gehen soll (Hauptsache geliebt).
Nicht falsch verstehen: Ich möchte nicht dem leichtsinnigen Umgang mit der Pandemie das Wort reden. Aber „Hauptsache gesund“ und „Hauptsache gelebt“ sind für mich keine wirklichen Alternativen.
Ich wünsche mir vielmehr ein Leben und Sterben unter der Maxime „Hauptsache geliebt“, was für mich bedeutet, bedingungslos geliebt zu haben und bedingungslos geliebt worden zu sein.
Rolf Martin ist Pastor emeritus und unterstützt seit dem Herbst die digitale Arbeit der Evangelischen Akademie zu Berlin
Erschienen am 25.03.2021
Aktualisiert am 09.04.2021