Durch das Kreuz hindurchgehen
13.4.2021 | Blog | Johann Hinrich Claussen
In der zurückliegenden Passionszeit konnte man in einer Berliner Kirche einen unvergleichlichen Kreuzweg gehen. Tief führte er hinein in die Ur-Verstörung des christlichen Glaubens. Aber er führte auch hinaus. Nur wohin genau?
In St. Matthäus, der Berliner Kunstkirche am Kulturforum, hatte Pfarrer Hannes Langbein eine erstaunliche Installation möglich gemacht. Er hatte Gregor Schneider eingeladen, seinen „Kreuzweg“ aufzubauen. Schneider ist ein Ur-Künstler. Er schafft Räume und Skulpturen, die archaisch wirken und die Grund-Empfindungen, bei mir vor allem Ur-Ängste, wachrufen. Sie laden zu religiösen Assoziationen ein und wollen doch eigenständige, offene Kunstwerke sein.
Dies war mein Weg durch Schneiders Kreuzweg: Ich trat durch das Portal der Kirche und stand vor einem schwarzen Loch. Mutig und neugierig ging ich die erste Schritte hinein. Anfangs habe ich gelächelt, ein bisschen Licht von hinten milderte das Bedrohliche. Doch einige Schritte weiter war es finster, stockfinster. Ich tastete mich voran. Meine Augen mochten sich an das Schwarze nicht gewöhnen. Meine Hände suchten den Weg. Dann ging es nach links, nach rechts. Jetzt kam bei mir tatsächlich Angst auf. Geradeaus, ein paar Schritte noch, dann war ich hindurch, stand auf einmal vor dem Altar, erleichtert.
Es war, als wäre ich für einen Moment in den Tod hineingegangen, in das absolut Dunkle, aber mit dem Versprechen, auch wieder hinaus- oder hindurchzukommen, ins Licht. Natürlich nur als Kunsterfahrung, als Spiel, aber doch so massiv, dass mir das Skandalöse des Kreuzes und das Verwegene der Osterhoffnung deutlich wurde, deutlicher als sonst.
Anschließend habe ich Schneiders riesiges Kreuz umwandert, bin die Treppe hinaufgestiegen, habe es mir von oben betrachtet, wie es da unten die Mitte des Kirchenschiffs ausfüllte, raumgreifend schwarz. Dann habe ich an den Seitenwänden der Empore die Fotos früherer Arbeiten von Gregor Schneider betrachtet und den Zusammenhang mit anderen seiner Werke studiert: vor allem mit seinem Ur-Haus und seiner „Kaaba“, einem riesigen schwarzen Block, der bei öffentlichen Ausstellungen für heftige Debatten gesorgt hat. Eine Zeichnung zeigte, wie für ihn Kaaba und Kreuz zusammenhängen – rein geometrisch betrachtet, ist das Kreuz eine Auseinanderfaltung des Kubus. Das hätte natürlich ein gefundenes Fressen für fundamentalistische Islamhasser sein können, ist es zum Glück aber nicht geworden. Vielmehr bietet die ganz unreligiöse, rein geometrische Betrachtung von Kreuz und Kaaba die Chance, das Kreuz als ein Symbol zu deuten, das das unergründliche, schwarze, blockhafte Geheimnis Gottes auseinanderlegt und öffnet (und damit kein Urteil über den Islam „an und für sich“ zu fällen).
Erfreulicherweise wurde der Mut von St. Matthäus belohnt. Es gab ein sehr gutes Medienecho, aber keine Erregung oder Anfeindung.
Ich habe dieses Kunstwerk nicht nur betrachtet und durchschritten, sondern auch vor und mit ihm Gottesdienst gefeiert. Das war nicht leicht, denn das Kreuz teilte die coronabedingt überschaubare Gemeinde in zwei Gruppen. Und ich stand direkt vor seiner Mündung. Mein eigener Kreuzweg steckte mir noch in den Knochen, aber das Aufatmen, als ich hindurch war und vor dem Altar in der hellen Kirche stand, war noch frisch.
Johann Hinrich Claussen ist Kulturbeauftragter des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland.
Erschienen am 13.04.2021
Aktualisiert am 13.04.2021