Ins Leben geschubst
16.4.2021 | Blog | Maria Coors
Vor ein paar Jahren fiel mir an einer viel befahrenen Straße in Jerusalem ein Schild ins Auge. Es war eigentlich gar nicht zu übersehen, weil es mit einer Absperrung verbunden war, die es für mich und andere Fußgänger*innen erforderlich machte, uns auf einem schmalen Reststreifen des Fußwegs daran vorbeizuschlängeln. Das Schild wies darauf hin, dass Straße und Fußweg an einen Friedhof grenzten und der Baum, dessen Zweige über die Mauer reichten, auf diesem Friedhof wurzelte. Aufgestellt waren Schild und Absperrung um „Priester“ zu warnen – das sind heutzutage, wo es den Jerusalemer Tempel nicht mehr gibt, Menschen mit dem Nachnamen Cohen. Nach jüdischem Gesetz ist es ihnen in besonderer Weise verboten, mit toten Menschen in Kontakt zu kommen. Auch Friedhöfe fallen unter dieses Kontaktverbot und eben auch Bäume, die auf Friedhöfen stehen und deren Zweige. Weil der Hut eines Priesters eventuell zufällig an so einen Zweig stoßen könnte: deshalb das Schild, deshalb der Umweg für alle auch Nicht-Kohanim, auch nicht-religiöse Juden und Jüdinnen auch Christ*innen und Angehörige anderer Religionen. Hier gilt es etwas zu schützen, also müssen alle einen Umweg laufen, damit insgesamt kein Risiko eingegangen wird.
Ich habe in diesen Ostertagen öfter an das Schild gedacht. Wie gesagt, für Priester gelten allgemein oft strengere Regeln. Aber diese Vorschrift ist Teil einer jüdischen Praxis, die sich sehr sorgfältig um die Trennung zwischen Tod und Leben kümmert. Manchmal wird gerade vor dem Hintergrund von Karfreitag und Ostern eine jüdisch-christliche Differenz ausgemacht. Während für Juden und Jüdinnen die Abgrenzung zwischen Tod und Leben zentral sei, feierten Christ*innen die Aufhebung dieser Grenze, heißt es dann. „Ostern bedeutet, dass der Tod nicht das letzte Wort hat“, ist da so ein Predigtsatz. Ich glaube, dass er richtig ist. Aber ich glaube auch, dass er eine Floskel und sehr missverständlich ist. Der Tod hat deshalb nicht das letzte Wort, weil sich mit dem Tod nicht reden lässt. Er ist die Grenze des Lebens, vom Leben völlig getrennt. So verstehe ich auch die biblischen Texte. Selbst die biblischen Zeugnisse vom Auferstandenen weisen meines Erachtens noch die berechtigte jüdische Vorsicht im Umgang mit dem Tod auf. Auch der tote Jesus redet nicht. Der lebendige Jesus redet, predigt, tröstet und betet bis er stirbt. Und der Auferstandene? Er kehrt nicht ins Leben zurück, sondern erscheint den Lebendigen. Und er verweist die Lebendigen nicht auf seinen oder ihren eigenen Tod, sondern auf das Leben. Der Auferstandene ist als Trauerbegleiter bei seinen Jünger*innen, er begleitet sie behutsam ins Leben nach seinem Tod. Die Begegnung mit ihm ist eine Grenzerfahrung, aber er schützt diese Grenze.
Mir ist Ostern eine wichtige Erinnerung an die Trennung zwischen Leben und Tod. Ostern schubst mich weg von der Grenze des Todes zum Leben. Der christlichen Kultur wurde zu verschiedenen Zeiten eine zu große Todesnähe, ja Lebensverachtung vorgeworfen. Vielleicht stimmt das. Es liegt eine Gefahr in der Grenzerfahrung zwischen Karfreitag und Ostern. Die Gefahr, den Tod nicht zu fürchten und das Leben nicht zu achten. Ich denke, es ist sehr christlich, den österlichen Weg mit so viel jüdischer Vorsicht und Rücksicht zu gestalten, wie die frommen Jerusalemer*innen den Fußweg neben dem Friedhof. Ich sehe es so: Jedes Menschenleben endet mit dem Tod, ja. Aber der Tod ist nicht die Sache der Lebendigen, mit dem Tod wird nicht geredet. Ich möchte nicht mit ihm rechnen und ihn nicht einkalkulieren, auch nicht in Pandemiezeiten. Zur Not laufen alle einen großen Bogen, damit jemand nicht aus Versehen mit dem Hut anstößt.
Maria Coors ist evangelische Theologin und Historikerin. Sie arbeitet als Projektleiterin für das interreligiöse Projekt „Weißt du, wer ich bin?“ bei der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland (ACK) und ist Mitglied der AG Juden und Christen beim Deutschen Evangelischen Kirchentag.
Erschienen am 16.04.2021
Aktualisiert am 16.04.2021