Hoffnung der Zeit-losigkeit
23.4.2021 | Blog | Philipp Weichenrieder
In der Pandemie, wie sie seit über einem Jahr global unser Leben bestimmt, ist Planbarkeit von Zukunft durch Krisenmanagement, Flexibilität und Unsicherheit ersetzt worden. Dabei kommt zum Vorschein, was viele Menschen, die in Mitteleuropa leben, nicht arm sind, nicht krank sind und möglicherweise eine Reihe weiterer Privilegien genießen, bisher vielleicht ausgeblendet haben: das Paradox von Zukunftsplänen, die eigentliche Unplanbarkeit von etwas noch nicht Bestehendem.
Das Planen von Zukunft hat etwas Prophetisches, indem wir uns die kommenden Minuten, Stunden, Tage und Wochen vorstellen, Entwicklungen vorhersehen, abschätzen wollen. Nicht alle Menschen haben den Luxus, das selbstbestimmt zu tun – und hatten das auch vor Corona nicht. Wenn die Gegenwart bestimmt ist von Krankheit, Armut, körperlicher Gewalt oder täglicher Diskriminierung aufgrund von Geschlecht, Aussehen oder Herkunft, ist die Zukunft eine Frage des Privilegs. Jetzt aber beschäftigt auch privilegierte Menschen die Unplanbarkeit der Zeit. Die Zukunft scheint irgendwie verloren gegangen zu sein – so sprechen Medien über Kinder und Jugendliche in Deutschland, deren schulische Bildung während dieser Pandemie wenig Konstanz hat, beispielsweise als „verlorene Generation“.
Über den Verlust von Zukunftsvisionen hat der Journalist und Theoretiker Mark Fisher seit Mitte der 2000er-Jahre bis zu seinem Tod 2017 immer wieder nachgedacht. Mit Blick auf Kultur sprach er von einem Verlust der Vorstellungsgabe von Zukunft, gewissermaßen vom Verlieren von Innovationspotenzial. Elektronische Musik beispielsweise, eine Neuerung des 20. Jahrhunderts, stagniere. Alles, was in den 2000ern entstanden sei – von experimenteller Musik zu Dance Music – hätte so auch schon in den 1990er-Jahren gemacht worden sein können, so seine These. Die Musik, die mal schockierend neu und damit nach Zukunft geklungen habe, sei seit Mitte der 2000er-Jahre in einer Wiederholungsschleife gefangen. Das Futuristische an Musik sei zu einem Baukasten mit schon bestehenden Konzepten, Stimmungen und Assoziationen geworden, „Zukunftsmusik“ sei von einer Vision zu einem Genre geschrumpft worden.
Fisher nutzt für das Fehlen einer radikal anders zur Gegenwart gedachten (und hörbar gemachten) Zukunft mit Bezug auf den Philosophen Jacques Derrida den Begriff „hauntology“, eine Neuschöpfung aus den Worten „haunting“ (spuken oder verfolgen) und „ontology“ (die philosophische Disziplin der Ontologie). Für Fisher weist diese Feststellung über Kultur hinaus. Es geht ihm um nicht mehr und nicht weniger als die Vorstellung einer radikal anderen Zukunft gesellschaftlichen Zusammenlebens und politischer Strukturen. Die Vision einer Welt, die auf Gleichheit und Solidarität basiert, scheint nur noch geisterhaft in der Gegenwart nachzuhallen. Im Nachdenken über Derridas Text „Marx‘ Gespenster“ ruft Fisher das Bild des Gespenstes auf: Das, was es repräsentiert, besteht entweder nicht mehr oder noch nicht und prägt trotzdem als Virtualität die Gegenwart – entweder nachwirkend (auch als traumatische Erfahrung) oder vorprägend, indem wir unsere Handlungen an diese Annahme anpassen.
Als Beispiel für „hauntology“ in Musik nennt Fisher unter anderem Tracks des englischen Produzenten Burial. Passenderweise hat der Künstler das englische Wort für „Grab“ als Pseudonym gewählt, mit dem er Musik produziert, die geisterhaft und melancholisch klingt. In seinem Track „Archangel“ dringen zerbrechliche Fragmente von entrücktem Gesang in Wellen durch dicke, verrauschte Soundnebel. Schnelle Breakbeats mit verhallenden Drums stehen in seltsamer Spannung zu lang vibrierenden Bässen und melancholischen Streichinstrumentenklängen. Für Fisher wird die Musik davon heimgesucht, was einmal war, was hätte sein können und vor allem davon, was noch werden kann. Der Track weicht durch die eingebauten Vagheiten wie viele andere Tracks von Burial Grenzen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auf und entwickelt eine Spirale der Zeit-losigkeit.
Das, was ein Gespenst repräsentiert, existiert entweder nicht mehr oder noch nicht. Es steht damit scheinbar außerhalb der Zeit. Eine Vorstellung, die auch im christlichen Glauben zu finden ist. Der auferstandene Jesus hebt eine lineare Vorstellung von Zeit auf. Er ist nicht hier und doch hier. Jesus verkörpert die Erschütterung von Zeit und Raum. Den Jünger*innen erschien mit dem Tod von Jesus am Kreuz die Zukunft verloren. Sie hatten erst keine Vorstellung mehr von einem radikal anderen Morgen. Dabei hatte es schon begonnen. Für manche wirkt die gegenwärtige Pandemie wie Stillstand, beinahe wie ein Gefangensein im Heute. Die Vorstellung davon, wie Zukunft aussehen kann, verblasst, existiert vielleicht nur noch als Gespenst in den Gedanken. Tod und Auferstehung von Jesus definieren eine Gegenwart, die auch als Zukunftsidee funktionieren kann – als etwas, das nachwirkt und vorprägt. Die Gnade, die in der selbstgewählten Opferung von Jesus liegt, kann ein Ankerpunkt sein für verlorene Zukunftsvorstellungen. Ein Schimmer des morgen Möglichen taucht im Hier und Jetzt auf. Man könnte auch sagen: Es gibt Hoffnung.
Philipp Weichenrieder ist Referent für das Projekt „DisKursLab – Labor für antisemitismus- und rassismuskritische Bildung & Praxis“ der Evangelischen Akademie zu Berlin und schreibt für verschiedene Medien als freier Autor über Musik.
Erschienen am 19.04.2021
Aktualisiert am 06.05.2021