Vom Aushalten
4.5.2021 I Blog I Andrea Kuhla
Mein Kind war gestorben. Und jetzt stand die Beerdigung an. Eigentlich sollte ich jetzt viel Zeit im Bett verbringen, mit meinem Baby kuscheln, stillen, ausruhen, wickeln, müde und glücklich sein. Mich vom Wochenfluss erholen, meinem Körper Zeit geben, sich zu erholen. Nachwehen verarbeiten.
Stattdessen bereitete ich Felix‘ Beerdigung vor. Einen wichtigen Teil meines Abschieds von meinem Kind. Meine körperlichen Bedürfnisse spielten keine Rolle mehr. Denn ja, ich war zum zweiten Mal Mama geworden. Doch mein Kind lebte nicht mehr. Dieser Schmerz überschattete alles. Und selbst mein Körper verlangte danach, in Bewegung zu sein. Alles zu tun, was getan werden konnte, um diesen Abschied so schön wie möglich zu gestalten: Weil dies die letzte Gelegenheit war, noch etwas für mein Kind zu tun. Mit Felix‘ Beerdigung würde ich seinen Körper Gott und seiner Erde überlassen. Darum war mir alles, was ich bis dahin noch für ihn tun konnte, besonders wichtig. Es war eben vor allem für ihn. Und alles, was nach der Beisetzung kam, das wusste ich, war vor allem für uns.
Und so haben wir gemeinsam mit unserem großen Sohn einen Sarg für Felix ausgesucht. Zusammen mit einem Freund hat der große Sohn den Sarg in den Farben der Kleidung bemalt, die wir für Felix ausgesucht hatten und die wir ihm liebevoll im Kreißsaal angezogen hatten: einen taubenblauen Strickanzug, zitronengelbe Söckchen mit einem Herzen, auf dem stand „You are loved“, und eine Mütze, die ich ihm selbst genäht hatte – blau mit roten Sternchen und rotem Bündchen. Felixfarben.
Wir haben Felix unseren Freund*innen und Verwandten in einem Abschiedsraum vorgestellt, in dem er aufgebahrt war. Haben ihn gehalten und als Familie gesalbt. Sein großer Bruder mit uns Eltern. Wir haben ihn ein letztes Mal berührt und ihn in den Sarg gelegt. Und haben den Sarg verschlossen. Dann haben wir um Felix‘ Sarg herum mit vielen lieben Menschen das Abendmahl gefeiert. In dem Glauben, dass Gottes Tisch über das Sichtbare hinausreicht. Und dass auch Felix dort einen Platz hat.
Jetzt stand die Beerdigung vor der Tür. Die Liedblätter hatte uns ein Freund in den Felixfarben erstellt. Und ich erinnere mich noch genau, wie wir Stunden in unserem Wohnzimmer mit Freund*innen zugebracht haben, um 140 Felix-Broschen zu basteln: Aus gelbem und blauem Schleifenband und einem gehäkeltem F in der jeweils anderen Farbe.
Wir hatten blaue Blumen für den Sarg besorgt. Hortensien. Und unser Freund hatte eine Kerze für Felix in diesen Farben gestaltet. Alles letzte Dinge, die mir heute so wichtige Erinnerungsstücke sind.
Die Beerdigung rückte näher. Und ich wollte mich unbedingt schön machen für Felix. Und hatte mir in den Kopf gesetzt, mich in den Felixfarben zu kleiden. Einen roten Kapuzenpulli hatte ich. Mein Schwager brachte ihn mir ins Krankenhaus mit. Dort trug ich ihn, zog die Kapuze über meinen Kopf, als ich die Station verließ. Wie eine Boxerin nach der Niederlage.
Eine gelbe Hose hatte ich auch. Aber nichts Blaues. Meine Mutter und meine Schwester zogen durch sämtliche Geschäfte Berlins für mich auf der Suche nach passenden Schuhen. Mein Telefon pingte immer wieder mit neuen Bildern. Diese hier? Nein, das ist nicht das richtige Blau, nicht das richtige Gelb. Die Armen. Mein Perfektionismus erreichte ungeahnte Dimensionen. Gott sei Dank hatten sie viel Verständnis und Liebe für mich in dieser Situation. Für diesen letzten Tag sollte alles stimmen.
Also recherchierte ich selbst im Netz. Fand ein Modell. Und einen Laden in den Potsdamer Platz Arkaden – ein Ort, an dem verhältnismäßig nicht so viel los ist. Mein Mann, mein Sohn und ich fuhren hin. Es war mein erstes Mal vor der Tür nach Felix Tod. Und ich erinnere mich noch genau an dieses Gefühl, als ich aus dem Fahrstuhl stieg und die Arkaden betrat. Es war völlig absurd. Dieser Geruch. Nach Klimaanlage und Shoppingvergnügen. Nach Currywurst und Pizza. Diese Geräuschkulisse – hallendes Stimmengewirr, Schuhe und Schritte, plätschernde Brunnen, Kassenpiepen. Wie konnte das wahr sein? Dass diese Welt sich einfach weiterdrehte? Als sei nichts geschehen? Dass Menschen einkauften? Zu ihrem Vergnügen? Wie konnte das möglich sein in dieser Situation? Ich stand da, still, während all das an mir vorbeizog. Fühlte mich ungeschützt. Orientierungslos. Wusste nicht, wohin mit mir. Mit meiner Trauer. Mit meinem großen, großen Schmerz. Ich versuchte gar nicht erst, meine Tränen zurückzuhalten. Und klammerte mich an meinem Mann fest.
Ich fand meine Schuhe. Und fühlte irgendwas zwischen Stolz und Scham.
Später am Tag rief ich meine Freundin Anna an. Und erzählte ihr, wie ich mich fühlte. Sagte: „Das ist, als ob Karfreitag wäre, aber niemanden interessiert‘s! Es ist so traurig und dunkel in mir und die Welt dreht sich einfach weiter. Ich weiß gar nicht, wie ich das aushalten soll.“ „Weißt du“, sagte sie, „das ist nicht der Karfreitag. Das ist der Karsamstag. Du hast dich rausgetraut, zurück ins Leben. Ohne zu wissen, dass Ostern wird. Und dieses Dazwischen, das du jetzt aushalten musst, ohne eine Wahl zu haben, das ist der Karsamstag.“
Am Tag der Beerdigung war ich glücklich, dass ich blaue Schuhe an den Füßen trug. Für Felix. Mein Karsamstag sollte noch eine ganze Weile dauern. Jahre, bis ich mein Vertrauen zurück gewann, dass dem Leben etwas Grundgutes innewohnt. Heute erinnern mich meine Felix-Schuhe daran, dass auch dieses andere zu dieser Welt und zu diesem Leben gehört. Das Aushalten. Das nicht wissen, wann einmal alles gut wird. Oder ob überhaupt. Und dass es durch diese Zeit voll Schmerz und Vermissen keine Abkürzung gibt.
Andrea Kuhla ist Pfarrerin in der Apostel-Paulus-Kirche in Berlin-Schöneberg und schreibt auf segenssachen.de als Theologin, PlayingArtist und Mutter eines stillgeborenen Kindes.
Erschienen am 03.05.2021
Aktualisiert am 06.05.2021