2021-05-07 Blog Martin Bayer

Vergissmeinnicht

7.5.2021 | Blog | Martin Bayer

Osterblog

© EAzB / Ulf Beck

Berlin, eine trubelige Metropole. Auf der Suche nach Ruhe und Erholung finden viele Menschen den Weg auf die mehr als 220 Friedhöfe der Stadt. Hinzu kommen die Angehörigen der dort ruhenden Toten; sie pflegen die Gräber, gedenken ihrer Lieben, halten inne. Individuelle Grabstellen, über Generationen belegte Familiengräber oder prachtvolle Mausoleen längst vergangener Zeiten – und oft auch Reihen oder ganze Felder mit flachen, schlichten, rechteckigen „Kissensteinen“: Kriegsgräber – oder, genauer gesagt, Gräber für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft.

Diese Grabzeichen wurden bewusst einfach gehalten: nur die Namen, Geburts- und Todesdaten und die Jahre des jeweiligen Krieges sind dort zu lesen. Beruf, militärischer Rang oder sozialer Status spielen keine Rolle mehr, ebenso wenig die Todesart. Während Friedhofsbestattungen an eine gesetzliche Ruhefrist gebunden sind (in Berlin derzeit 20 Jahre), haben Kriegsgräber ein Dauerruherecht.

Viele Besuchende sind überrascht, dort die Namen von Frauen, die Lebensdaten von Kindern oder auch offensichtlich ausländische Namen vorzufinden. Dabei handelt es sich eben nicht um Soldatengräber: Nur zwei der zehn Opfergruppen beziehen sich auf Militärangehörige des Ersten und Zweiten Weltkriegs, die in den Kämpfen oder an den Kriegsfolgen starben. Soldaten, aber auch damals 16 Jahre oder 65 Jahre alte Mitglieder des „Volkssturms“, die in den letzten Kriegstagen verheizt wurden. Auf den Geländen der sowjetischen Ehrenmäler liegen Zehntausende Gefallene der Schlacht um Berlin. Auch Soldaten aus Italien und dem britischen Commonwealth wurden auf eigenen Grabanlagen bestattet: abgeschossene Bomberbesatzungen und Kriegsgefangene aus Australien, Großbritannien, Indien, Kanada, Neuseeland und Südafrika.

Doch in den meisten Kriegsgräbern in Berlin sind zivile Tote begraben: Opfer des Bombenkriegs und der Schlacht um Berlin. Auf den Kissensteinen finden sich ganze Familien nebeneinander aufgereiht: die Großeltern, die Mutter, die Kinder. Ebenso wurden hier Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft bestattet: WiderstandskämpferInnen oder auch als „lebensunwert“ ermordete Menschen. Nicht zuletzt für Berlin sind auch die Opfer des kommunistischen Regimes wichtig, beispielsweise Opfer des Aufstands vom 17. Juni 1953 oder des Mauerbaus.

Hinzu kommen Vertriebene, Internierte in Lagern unter deutscher Verwaltung, verschleppte Deutsche oder nach Deutschland Verschleppte, z.B. ZwangsarbeiterInnen aus den besetzten Gebieten aus Belgien, Frankreich, Italien, Jugoslawien, den Niederlanden, Polen oder der Sowjetunion. Die letzte Gruppe bilden „Displaced Persons“, die nach dem Ende der Kampfhandlungen weder in ihre alte Heimat zurückfanden noch eine neue erreichen konnten, sondern in den Flüchtlingslagern entkräftet starben.

Auf vielen Grabsteinen finden sich keine Namen: „4 Unbekannte“, „Unbekannte Frau“, „3 unbekannte Soldaten“. Neben den Einzelgräbern gibt es mehr als 150 Sammelgräber mit zusammen fast acht Hektar Fläche. Insgesamt liegen rund 150.000 Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft auf 171 Friedhöfen und Begräbnisplätzen in Berlin. Auch heute noch werden auf Baustellen die Überreste von Kriegstoten gefunden und auf Opfergrabstätten eingebettet. Der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge versucht sie zu identifizieren und benachrichtigt die Angehörigen, die so endlich Gewissheit bekommen – und vor allem einen würdigen Ort für ihre Trauer.

Eine Heroisierung ist unmöglich angesichts des millionenfachen Leids. Die Opfergrabstätten müssen vielmehr Mahn- und Bildungsstätten für den Frieden sein, an denen junge Menschen aus einst verfeindeten Ländern gemeinsam die Gräber pflegen, zu den Biographien der Toten forschen und sie somit aus der Anonymität monströser Statistiken herauslösen. Jeder einzelne Kissenstein ruft uns zu: Nie wieder Krieg!

Martin Bayer ist Geschäftsführer des Landesverbandes Berlin im Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V. und arbeitet seit vielen Jahren zu den kulturellen Dimensionen des Krieges.

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