Dem Wunder leise die Hand hinhalten
19.5.2021 | Blog | Anne Heimendahl
Als ich Frau S. kennenlernte, hatte sie gerade ihre Diagnose erhalten: Lungenkrebs. Auch wenn sie es schon befürchtet hatte, traf sie die Gewissheit mit ganzer Wucht. Sie war doch erst 42 Jahre alt und wollte für ihre beiden jugendlichen Kinder da sein! Sie hatte doch nach dem ersten bösartigen Tumor vor zehn Jahren alles versucht, um gesund zu leben. War immer stark und unabhängig gewesen!
Warum? Warum gerade sie? Und warum jetzt? In unserem ersten Gespräch füllte ihre Verzweiflung den ganzen Raum. Sie war sehr offen und wir waren uns auf Anhieb sympathisch. Aber was sollte ich sagen? Ich weiß, dass es keine „einfachen“ Antworten gibt, schon gar nicht auf die Frage nach dem „Warum“. Sie ist doch meist der Ausdruck einer tiefen Verstörung und Wut, eines Empfindens von Ungerechtigkeit. Sie verlangt, erst einmal nur zugelassen zu werden! Manchmal verbirgt sich hinter dieser Frage die nach Gott. Und dann mag der- oder diejenige vor dem Hintergrund des Glaubens an Gottes Gerechtigkeit danach fragen, was er oder sie falsch gemacht hat. Fragt nach dem Grund der Krankheit als möglicher Strafe Gottes.
Als Seelsorgerin kann ich mich nur vorsichtig herantasten. Kann nur versuchen, zu verstehen. Immer wieder neu. Und fragen. Zum Beispiel, ob sie meine, dass jemand Schuld habe an der Krankheit. Ob sie glaube, dass Gott etwas damit zu tun habe? Frau S. überlegte, welche Bedeutung Gott überhaupt für sie habe. Irgendwann sagte sie lächelnd, sie habe wohl die Beziehung nicht wirklich gut gepflegt.
Am Ende fragte ich sie, ob sie Gott noch einmal eine Chance geben wolle. Vielleicht könne sich ihre Beziehung noch einmal verbessern? Und wer weiß schon, was dann wird? Eine Gedichtzeile von Hilde Domin kam mir in den Sinn: „Nicht müde werden, sondern dem Wunder leise wie einem Vogel die Hand hinhalten.“
Damit endete unsere erste Begegnung und ein letztes Lebensjahr begann, das trotz aller Leiderfahrungen viele wunder-volle Begegnungen bereithalten sollte.
Zu denen gehörte auch die Wiederentdeckung der Heiligen Schrift. Zum Beispiel der Psalmen. Anfangs noch etwas unsicher, wurde es schnell zu einer Selbstverständlichkeit, bei jedem meiner Besuche einen Psalm miteinander zu beten. In die Angst hinein höre ich uns noch sprechen: „… und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich …“ Oder in die Ausweglosigkeit Worte aus dem 121. Psalm: „Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen, woher kommt mir Hilfe? Meine Hilfe kommt von dem Ewigen, der Himmel und Erde gemacht hat.“
Monate nach unserer ersten Begegnung, als Frau S. wieder einmal im Krankenhaus zur Chemotherapie war, begrüßte sie mich bei meinem Besuch mit einem traurigen Lächeln. Sie habe gerade ganz wenig Kraft. Lange sprachen wir über die Herausforderungen und Mühen ihres Weges und über all das, was sie Kraft kostete. Aber dann suchten wir nach Kraftquellen. In diesem Zusammenhang fiel mir die Geschichte von dem Propheten Elia ein aus dem 1. Buch der Könige.
Elia, der um sein Leben laufen muss und der, als er einfach nicht mehr kann, sich in der Wüste unter einen Ginster legt und vor Erschöpfung nie wieder aufstehen mag. „Es ist genug“, sagt er zu Gott, „nimm‘ meine Seele“. Und so schläft er ein. Aber so einfach stirbt es sich nicht! Stattdessen rührt ihn ein Engel an. „Steh auf und iss“, fordert er ihn auf. Und als Elia sich umsieht, entdeckt er Brot und einen Krug mit Wasser. Dann legt er sich wieder hin. Ein weiteres Mal ermutigt ihn der Engel: „Steh auf und iss, denn du hast einen weiten Weg vor dir!“ Und wieder isst und trinkt Elia und kann dadurch 40 Tage lang Tag und Nacht weiter gehen. 40 Tage – eine Ewigkeit … Am Ende der Erzählung begegnet Elia Gott. Es war ein besonderer Moment, als Frau S. und ich diese Geschichte miteinander teilten. Und sie aß und trank.
Frau S. war es immer wichtig gewesen, stark und unabhängig zu sein. Sie hat wesentliche Entscheidungen für ihr Leben allein getroffen und die Verantwortung dafür getragen. Das wollte sie auch in der Krankheit tun. Sie hatte ihren Kindern, Freundinnen und Verwandten nichts von ihrer Situation erzählt. Aber dann spürte sie die Sehnsucht, sich ihren Liebsten anzuvertrauen, und machte die wunderbare Erfahrung, sich fallen lassen zu können – und aufgefangen zu werden.
So sehr Frau S. zu Beginn haderte, so sehr sie anfangs vor allem das zu frühe Ende ihres Lebens fürchtete, so sehr wuchs die Freude am Leben, solange es dauerte, im Hier und Jetzt.
Als sie ein Jahr nach der Diagnose und unserer ersten Begegnung immer schwächer wurde, war ich es, die den Satz von Hilde Domin brauchte: Nicht müde werden – und wer weiß schon, welchem Wunder Frau S. nun die Hand hinhalten würde.
Anne Heimendahl arbeitet seit 1996 als Krankenhausseelsorgerin und ist seit 2017 Landespfarrerin für Krankenhaus- und Altenpflegeheimseelsorge in der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz.
Erschienen am 19.05.2021
Aktualisiert am 19.05.2021