„It’s daylight, that’s terrifying!“
22.5.2021 | Blog | Friederike Krippner
Man kann sich das kaum mehr vorstellen: Menschen, dicht an dicht gedrängt, die gemeinsam einem Konzert zuhören. Ein Erlebnis, das durch die Gemeinsamkeit der Masse, durch die Unwiederholbarkeit des Moments sich einschreibt in das Gedächtnis derjenigen, die dabei waren. Ein Gesamtkunstwerk, das gerade wegen seiner Vergänglichkeit im besten Fall Ewigkeitswert hat für all jene, die dabei waren.
Mein letztes solches Erlebnis war vor fast drei Jahren, im Sommer 2018, ein Nick-Cave-Konzert auf der Berliner Waldbühne. Es war ein lauer Sommerabend, es waren sehr viele Menschen gekommen, und als der Sänger endlich die Bühne betrat, blinzelte er zunächst einmal in die Sonne und beklagte: „It's daylight, that's terrifying!“
Und dann legte Nick Cave, australischer Musiker, Schriftsteller und vor allem genialer Songwriter – Tageslicht hin oder her – gemeinsam mit seiner Band The Bad Seeds los. Es war ein großartiges Konzert, es nahm einen mit in menschliche Abgründe und in die Höhen der Liebe; es war eine Inszenierung zwischen Diabolik und Prophetie. Nick Cave tanzte, rannte, keifte, jubelte, erzählte zwischendurch ein paar Anekdoten, nahm ein Bad in der Menge, ließ sich feiern und feierte seine Fans – alles scharf an der Linie zum Kitsch, und man kam konnte sich nur wundern, dass man das alles nicht nur erträglich, sondern geradezu fulminant fand.
Und mitten drin in diesem Abend, in dem Nick Cave in allem zeigte, warum er zur popkulturellen Ikone geworden ist, erinnerte er daran, dass gerade der Todestag seines Sohnes war. Am 14. Juli 2015 war sein Sohn Arthur gestorben, er wurde 15 Jahre alt. Und nun, drei Jahre später, spielte Cave an eben jenem Tag auf der Berliner Waldbühne. Seine Erwähnung des Todestages hatte nichts Inszeniertes, sie hatte etwas beinahe Beiläufiges. Diese unaufgeregte Erinnerung an das wohl Furchtbarste, das Eltern passieren kann, machte zumindest für mich ein hervorragendes Konzert zu einem Ereignis, dem man sich nicht entziehen konnte.
Nick Cave hat sich nach dem Tod seines Sohnes nicht aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Er hat sich in mehreren Interviews, in einem Film und vor allem in seinem Blog The Red Hand Files zum Umgang mit der Trauer um seinen Sohn geäußert. Er hat dem Klischee widersprochen, dieser furchtbare Verlust sei kreativer Motor für eine Künstlernatur, und er hat zugleich beschrieben, dass diese Trauer nun für immer Teil von ihm sei und damit auch von seiner Kunst: „I can only say“, so heißt es auf seinem Blog, „that in time, there is a way, not out of grief, but deep within it.“ Es gibt keinen Weg raus aus der Trauer, aber es gibt einen Weg in dieser Trauer zu leben.
Immer wieder schreibt Cave über Trauer – in seinen Songs, in seinem Blog – und er beschreibt ihre ganz dunklen Seiten. Er schreibt darüber, dass sie zugleich Unterwerfung einfordert und zum Widerstand herausfordert, und er schreibt über ihre transformative Kraft: „Grief became both an act of submission and of resistance — a place of acute vulnerability where, over time, we developed a heightened sense of the brittleness of existence. Eventually, this awareness of life’s fragility led us back to the world, transformed.“
Am Rande spricht er dabei auch von seinem Glauben. Nick Caves Werk ist durchzogen von Anspielungen auf die Bibel, auf christliche Ikonografie. Die Bibel ist ihm dabei keineswegs nur popkulturelle Spielerei. Nick Cave ist Kirchen- und Religionskritiker und er ist dabei ein ewig Suchender nach Gott: „I am a believer – in both God’s presence and his absence.“
Das Waldbühnenkonzert am 14. Juli 2018, die Songs, die Nick Cave sang, die Dinge, von denen er erzählte, zeigten ihn als solch Suchenden. Vor allem aber zeugten sie von der transformativen Kraft von Trauer. Tod und Liebe, Liebe und Tod und, ja, Gott: Um diese drei ging es an dem Abend. Ein Erlebnis, das unwiederholbar und doch geblieben ist.
Die Literaturwissenschaftlerin Friederike Krippner ist Direktorin der Evangelischen Akademie zu Berlin und freut sich darauf, dass Nick Cave im Sommer 2022 wieder in Berlin auftreten wird.
Erschienen am 21.05.2021
Aktualisiert am 22.05.2021