Die Apokalypse ist auf unbestimmte Zeit verschoben
24.5.2021 | Blog | Heinz-Joachim Lohmann
Zwischen Ostern und Pfingsten befanden sich die Jünger im Home Office. Eine größere Gruppe, bestehend aus Männern und Frauen, verließ aus Angst nicht mehr das Haus. Neben der Furcht vor Verfolgung war diese Zeit geprägt von Selbstvergewisserung über Jesu Botschaft und von Neuorientierung in vielen Fragen.
Die gemeinsame Zeit mit einem Jesus aus Fleisch und Blut war vorbei. Die Botschaft „Tut Buße, ändert Euch, das Ende ist nahe“ stand auf dem Prüfstand, nachdem der Garant des nahen Endes nur noch anders bei ihnen war und auf jeden Fall nur für sie wahrnehmbar. Sie fürchteten die Verfolgung durch die Obrigkeit, weil Jesus als Aufrührer hingerichtet worden war.
Unser Blog begann mit einem Zitat von Adorno: „Erkenntnis hat kein Licht, als das von der Erlösung her auf die Welt scheint.“ Die Gefolgsleute Jesu nach Ostern und die religionskritischen Philosophen des vergangenen Jahrhunderts verbindet die Frage nach dem Gehalt von Erlösung und danach, inwieweit sie in unserer Welt umsetzbar ist.
Ein falscher Weg kann korrigiert werden
Erlösung findet sich für Adorno in „Freiheit, Menschlichkeit und Gerechtigkeit“. In diesen Ideen sieht er die Chance, die schlechte Wirklichkeit zu verbessern. Er wendet sich gegen jede Wahrsagerei, die aus den vorhandenen Tatsachen immer nur den Weg zum Schlechteren konstruiert. Im Unterschied zu Wahrsagerei und Orakeln geht die Prophetie davon aus, dass ein falscher Weg korrigiert werden kann. Adorno sieht in ihr die Möglichkeit der Umkehr, die Chance, eingeschlagene Pfade zum Unheil zu verlassen. Christian Staffa ist in seinem Blog zu Ostern Spuren dieser Verbesserung in unseren Tagen in unserem Land nachgegangen.
Daneben sieht Adorno: „Gerechtigkeit, die dem Subjekt widerfährt, kann objektiv zum Unrecht werden.“ Er konstatiert die „Ähnlichkeit von Tier und Mensch“ und die Unmöglichkeit, „den Frieden mit dem Naturwesen“ zu schließen. Er warnt vor der „Illusion von Versöhnung der antagonistischen Elemente im Unversöhnten“. Diese Perspektive von Erlösung ist nicht verwirklichbar, weil niemand sich aus den Gegensätzen dieser Welt herausnehmen kann. In aller Erkenntnis muss auch mitschwingen, dass in Erlösung etwas Unerreichbares liegt. Die Sehnsucht nach Überwindung findet Adorno vor allem in der Musik beschrieben. Er hat die musiktheoretischen Passagen in Thomas Manns „Doktor Faustus“ geprägt. Des Protagonisten Adrian Leverkühns letztes Werk endet mit einem Ton „der Hoffnung hinter der Hoffnungslosigkeit“.
Doppelgesicht der Erlösung
Dieses Doppelgesicht der Erlösung kennzeichnet auch die christliche Verkündigung. Wir glauben an die Möglichkeit der Überwindung von Armut, Hunger und Krieg, die Umsetzbarkeit von Frieden und Gerechtigkeit und die Arbeit an der Wahrheit. Gleichzeitig erwarten wir, dass das Ende allen Leids mit dem neuen Himmel und der neuen Erde kommt.
Diese Spannung entwickelt sich im Home Office der Gefolgsleute Jesu zwischen Ostern und Pfingsten. Am Ende treten sie aus ihren Häusern und reden frei über das, was sie zu sagen haben. Gott hat uns gezeigt, dass er die Schranken dieser Welt beseitigen wird. Aber es dauert noch etwas. Bis dahin arbeiten wir an Wahrheit, Frieden und Gerechtigkeit.
Unser derzeitiges Home Office ist geprägt von Dankbarkeit um die Bewahrung vor Ansteckung, Krankheit und Tod, von den Chancen und positiven Energien, die aus der veränderten Situation kommen, vom Gefühl der Freiheitsberaubung wegen der vielen Einschränkungen, von der Sorge um viele Betriebe und von den Lasten, die sich aus der Aussetzung des öffentlichen Lebens und der Schließung vieler Einrichtungen ergeben. Die meisten leben mit widersprüchlichen Empfindungen. Einige entwickeln Verschwörungstheorien. Die weltpolitische Lage scheint noch mehr als sonst aus den Fugen zu geraten: Krieg in Äthiopien, Libyen, Syrien, der Ostukraine, Israel und Gaza. Antisemitismus und die Gewalt explodieren auf unseren Straßen. Das Gefühl von Untergang liegt in der Luft.
Es gibt keine Rezepte. Aber es ist vieles möglich, was wir für unmöglich halten. Wir sind dazu aufgerufen hinzusehen, Verantwortung zu übernehmen und zu handeln.
Die Männer und Frauen in Jesu Gefolgschaft, die zu Pfingsten wieder auf die Straße gehen, sagen, was sie zu sagen haben. Sie überwinden ihre Angst und geben sich keiner Verschwörungstheorie hin. Sie haben gelernt, dass die Apokalypse von Gott auf unbestimmte Zeit verschoben wurde und dass es nicht ihre Aufgabe ist, das Datum zu bestimmen. Für sie ist die Zeit des Redens und Handelns, der Phantasie und der Kreativität, des Betens und der Arbeit gekommen. Und auf jeden Fall vertrauen sie darauf, dass am Ende das Leben stehen wird.
Heinz-Joachim Lohmann ist Studienleiter für Demokratische Kultur und Kirche im ländlichen Raum und stellvertretender Direktor der Evangelischen Akademie zu Berlin.
Erschienen am 21.05.2021
Aktualisiert am 26.05.2021